Kettenreaktion
Kettenreaktion
von Horst Reindl
Herr Bemsl freute sich schon den ganzen Tag auf seinen Oktoberfestbesuch. Er hatte sich eigens freigenommen, um schon am frühen Vormittag auf die Wiesn zu gehen. Dank seiner rechtzeitigen Ankunft wurde er noch in das Bierzelt eingelassen, und er begann, einen Platz zu suchen, wo er sein Hendl verzehren und eine Maß Bier genießen konnte. Doch leider waren schon alle Plätze belegt.
„Ja, wann sind die denn alle schon aufgestanden oder sind die noch von gestern hier?“ schoss es ihm durch den Kopf, und er begann, durch die Tischreihen zu schlendern. Nahe dem Mittelgang stand gerade ein Pärchen auf, vermutlich um die sündteuren Fahrgeschäfte durch Bezahlen der exorbitanten Eintrittspreise vor dem Ruin zu retten.
Schnell wie der Blitz glitt Herr Bemsl auf den freien Platz und packte seine Brotzeit aus. Die Kellnerin brachte auch schnell das Brathendl und die erste Maß, nicht ohne gleich den saftigen Preis zuzüglich eines genauso saftigen, automatisch hinzugerechneten Trinkgeldes zu kassieren. Er führte gerade seinen Krug zum Mund, als er von einem kalten Guss im Nacken überrascht wurde, ausgelöst durch eine überschwängliche, aber zu tölpelhaft ausgeführte Verbrüderungszeremonie zweier Herren am Tisch hinter ihm, bei der der Inhalt eines Bierkruges über Herrn Bemsl geschwappt war.
Herr Bemsl sprang auf und trat, sich nach der Ursache der Dusche umsehend, auf den Gang neben seiner Bank. Unglücklicherweise übersah er dabei die gerade mit sechs frisch gezapften Maßen sich ihren Weg suchende Bedienung und rempelte sie derart, dass sie aus dem Gleichgewicht geriet und mit dem Aufschrei „Ja spinnst du jetzt?“ auf die vollbesetzte Bank am nächsten Tisch fiel, wobei sich der Inhalt der Krüge über die dortigen Besucher ergoss.
Herr Bemsl wollte noch nachfassen und streckte den Arm aus, um den Sturz der Dame zu verhindern, kam jedoch mit seiner Reaktion genau richtig, um statt der Kellnerin zu helfen, einen der Begossenen, der seinerseits aufgesprungen war, mit der Hand im Gesicht zu treffen und ihm dabei den Hut vom Kopf zu stoßen. Der Betroffene bedankte sich mit einem „Ja, du Hamme, mägst ebba raffa?“, was man in einer entspannteren Atmosphäre vielleicht mit „Sie Hammel, möchten Sie etwa einen Raufhändel mit mir anfangen?“ ausgedrückt hätte. Sein Gesprächspartner beließ es nicht bei der rhetorischen Frage, sondern verpasste Herrn Bemsl eine Mordsdrumm von einer Watschen.
Inzwischen waren auch bereits zwei Ordnungskräfte vor Ort und versuchten, die Lage in den Griff zu bekommen. Sie bauten sich zwischen den Parteien auf und fragten die Bedienung, was da los wäre. Diese antwortete, dass der Herr Bemsl sie in seinem Sure, das ist bayerisch für Rausch, umgestoßen hätte, dass dabei gleich sechs Maß Bier ausgelaufen seien und dass der die zuzüglich eines üblichen Trinkgeldes bezahlen müsse. Herrn Bemsls Erklärungsversuche nützten nichts, und seine Erzählung vom kalten Nackenguss prallte an der Uninteressiertheit der Wachleute ab, die sowieso der Bedienung, die praktisch ihre Kollegin war, mehr glaubten.
Sie brachten Herrn Bemsl vielmehr durch psychologisch geschicktes Zureden dazu, die sechs Maß zu bezahlen: „Red koan Schmarrn und zoih, wei sonst wean ma ungmiatle“, was Herr Bemsl als Aufforderung, keinen Unsinn zu erzählen und bei Gefahr einer drohenden Ungemütlichkeit zu bezahlen, verstand.
Kaum war die Bedienung im Besitz ihres Geldes, als die zwei Sicherheitsleute Herrn Bemsl unter den Armen fassten und ihn mit einem eleganten Schwung durch die Tür des Bierzeltes und einem „Lass di do nimma blicka“, also der Ermahnung, sich hier nicht mehr blicken zu lassen, ins Freie beförderten. Der Schwung war, vermutlich durch jahrelange Übung, so gut gelungen, dass Herr Bemsl mehrere Meter auf die Straße vor dem Zelt hinausschoss und gleich eine etwas fülligere Dame, die gerade des Weges kam, zu Fall brachte. Diese reagierte sehr schnell und zog ihm noch im Sitzen mit dem Regenschirm ein, zwei Schläge über, nicht ohne ihn zurechtzuweisen: „Schleich di bloß, du bsuffas Woogscheitl, sonst griagst no a boor!“, was man als Geheiß an einen sternhagelvollen Alkoholiker, das Weite zu suchen unter Androhung weiterer Maßnahmen im Weigerungsfall verstehen muss.
Herr Bemsl bemühte sich nicht einmal um eine Erklärung, sondern suchte das Weite. Er fand es aber nicht, weil er bei seinem Fluchtversuch am nächsten Souvenirstand den Standbesitzer, der grad auf einem Stuhl stehend einen Ständer mit Gaudihüten neu dekorierte, umriss, da Herr Bemsl an einem Stuhlbein hängen geblieben war. Der Standbesitzer raffte sich als erster auf, und mit einem Stuhlbein und mit hässlichen Worten drang er auf den Unglücklichen ein, der sich dem Ungemach durch weitere Flucht entziehen wollte, aber geradenwegs einer Polizeistreife in die Arme lief, die ihn auf die Wiesnwache brachte.
Der verständlicherweise verworrene Erzählung Herrn Bemsls entnahmen die Polizisten folgenden Tatbestand, zumindest stand es so im Protokoll:
Anzetteln einer Rauferei im Bierzelt nach dem Genuss von sechs Maß Bier, versuchte Zechprellerei, Widerstand gegen das Sicherheitspersonal des Bierzelts in Tateinheit mit Hausfriedensbruch, versuchter Diebstahl eines Regenschirmes in Tateinheit mit leichter Körperverletzung, Vandalismus an einem Andenkenstand in Tateinheit mit tätlichem Angriff auf den Standbesitzer mit einem Stuhlbein, also einer gefährlichen Waffe und Widerstand gegen die Staatsgewalt, alles vermutlich im Zustand des fahrlässigen Vollrausches. Davon, dass Herr Bemsl sein Hendl und die Maß Bier stehen lassen mußte, stand nichts im Protokoll.
Immerhin ergab die Alkoholprobe der Polizeibeamten wider Erwarten, dass Herr Bemsl absolut nüchtern war, was von den Beamten erschwerend ausgelegt wurde. Das war ihnen noch nicht untergekommen, dass ein nüchterner Festbesucher derart randalierte.
Herr Bemsl hatte seine Sinne gerade noch genügend beisammen, dass er seinen Protest zu Protokoll gab, dieses aber nicht unterschrieb. Die nächsten Wochen war er damit beschäftigt, mit Hilfe eines Rechtsanwalts die Tatsachen gerade zu rücken, was ihm schlussendlich nach vielen Mühen auch gelang.
Bezüglich des Münchner Oktoberfests hegt Herr Bemsl seitdem keine guten Gedanken mehr. Er hatte sich auch geschworen, nie mehr wieder dieses Volksfest zu besuchen, was für einen gestandenen Münchner das Äußerste an Härte bedeutet.
Trotzdem erzählt er manchmal bei guter Laune seinen Enkeln von den harten Zeiten, die er damals durchgemacht hatte, als er auf der Flucht sogar Hendl und ein ganze Maß Bier zurücklassen musste.
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