Gestern starb Mutter
Gestern starb Mutter
von Ruta Dreyer
Gestern starb Mutter.
Sie lag auf dem Sofa, und langsam fielen kleine, dünne Spuckefäden auf das Kissen neben ihr, tropften dann hinab. Ich beobachtete dieses Phänomen, bis ich merkte, dass irgendwann keine neue Spucke mehr nachkam. In dem Moment sah ich Mutter überhaupt erst wirklich. Und sie bewegte sich nicht.
Es ist nicht so, wie man denkt, dass jemand stirbt. Dass alles ganz kalt wird und zu stinken anfängt. Oder dass die Person einatmet und nicht mehr aus und mit einem Ruck alles aufhört. Das ist nicht so.
Ich habe auch nicht geweint. Dafür hatte ich keine Zeit.
Als erstes habe ich Bjorn angerufen, und der hat abgenommen. Dann habe ich nur gesagt: „Die Zinsen gehen hoch, die gehen hoch.“ oder „Eine Inflation naht.“ oder so was, weil mir der Mumm gefehlt hat und weil das ja auch unhöflich ist, zu sagen: „Hallo Bjorn“ und dann, „Du, unsere Mutter ist grad gestorben.“ und dann, der Höflichkeit willen: „Wie geht es dir so?“
Ich habe aufgelegt. Dann bin ich aus dem Raum gegangen und habe die Tür ganz leise zugemacht, hinter mir.
Weil Mutter das nie so mochte, wenn man die Türen schlägt.
Danach überlegte ich, dass diese Tatsache nun sinnlos ist, öffnete sie wieder und schlug sie mit einem harten Ruck zu.
Das tat weh.
Ich stand erstmal nur im Flur und habe den Boden angestarrt, mit den Händen in den Hosentaschen und den Füßen ganz eng nebeneinander und die Schulterblätter nach vorne gestreckt, bis es schmerzte.
Als ich aufhörte zu stehen, war es dunkel draußen, und meine Augen schmerzten, als hätte ich geweint, selbst meine Wangen waren rot, doch ich hatte nicht geweint.
Ich ging direkt ins Bett , zog die Decke bis zu meinem Kinn und atmete schwer.
Ich vergaß, das Licht auszumachen, und schlief in meinen Klamotten.
Am nächsten Tag aß ich nichts.
Der Postbote kam. Er brachte mir ein Päckchen, das Mutter bestellt hatte.
Ein kleiner, roter Bilderrahmen war darin. Welches Foto hätte sie hineingestellt?
Vielleicht Bjorn, wie er mit seinem verschmitzten Grinsen auf dem Elefantenrücken sitzt und sich das einzige Mal nicht vor der Kamera versteckt. Oder ihr letztes Jahr verstorbener Ehemann mit seinen Tontöpfen, die er sonntags im Keller schuf, oder ihre Schwester Gera, die gerne lange Röcke mit Pailletten trug, während sie schiefe Radschläge übte.
Mich würde sie nicht als Foto auf der Kommode haben wollen.
Ich hatte die Schule abgebrochen, wohnte mit Anfang zwanzig bei ihr und überlebte den Alltag mit Zeitschriften, Zeichnen und sehr sinnlosen Selbstgesprächen über große Philosophen.
Bjorn war mit achtzehn schon ausgezogen. Bjorn studierte.
Bjorn kannte seine Mutter nur lebend.
Ich rief ihn noch einmal an.
Ich fragte ihn, wie es seiner Katze gehe ,und er erzählte mir etwas über seinen senilen Arbeitskollegen.
Ich riet ihm, die Wetternachrichten zu sehen. Er schlug mir eine Low-Carb-Diät vor.
Ich wollte nicht, dass er auflegte; ich wollte, dass er redete und redete und mich zwang, zuzuhören und nicht zu ersticken.
Verantwortung war zu viel für mich, und Bjorn hatte das alles immer gemacht. In der Schule, wenn Dirk das Geld für die Zigaretten einsammelte, hatte er sich getraut, sich vor mich zu stellen.
Die blauen Briefe, das „Der Mutter die Hand auf den Arm legen und sie beruhigen“.
Und dann ich, nun wieder im Flur stehend und sich vor dem Leben drückend.
Ich erkannte zum ersten Mal die Farbe des Teppichs unter mir. Jedenfalls, wenn ich vorsichtig die Augen zusammenkniff.
Ich fühlte mich wie ein Goldfisch. Stumm. Taub. Immer wieder gegen die Glaswände schwimmend.
Eine dreiviertel Stunde später merkte ich, dass ich mir in die Hose gemacht hatte. In der Wohnung roch es nach Pisse.
Dieser Gestank überlagerte alles andere.
Erst abends merkte ich, dass ich Hunger hatte.
Mutter hatte immer gekocht.
Bjorn war auch manchmal zum Essen vorbeigekommen. Sie hatte ihn lächelnd angesehen und ihn nach seinen Prüfungen gefragt, während ich um ein Dessert bettelte.
Ich hatte noch immer die vollgepisste Hose an.
Ich schaffte es nicht, sie auszuziehen.
Konnte meinen Fingern nicht sagen: „Jetzt öffnet doch den Reißverschluss!“, egal, wie sehr ich es versuchte.
Auch die Fenster zum Lüften konnte ich nicht öffnen.
Es bestand keine Verbindung zwischen meinem Gehirn und der Hand. Es waren zwei voneinander getrennte Körper, die ihre kleinen hübschen Leben lebten, ohne etwas dafür zu tun. Bloß Existieren: Mein Gehirn war zu faul und meine Hand ebenso.
Ich traute mich nicht, mich selbst faul zu nennen und um etwas zu tun zu haben, drückte ich mit der inneren Handfläche gegen die Türklinke, bis die Haut rot wurde.
Sie tat nicht weh.
Auch meine Wangen waren wieder rot. Aber geweint hatte ich nicht.
Geweint hatte ich doch nicht?
Am nächsten Tag kam Bjorn.
Ich saß auf meinem Bett im Schneidersitz und starrte an die Wand, immer noch meine vollgepissten Hose an und einem leeren Blick und roten inneren Handflächen.
Da klingelte es, und ich wusste, dass es Bjorn war.
Er klingelte nicht besonders lang oder besonders kurz oder so.
Er klingelte einfach normal, und da wusste ich es.
Ich überlegte als Erstes, einfach nicht zu öffnen.
Ich hätte ja einkaufen sein können und Mutter auf der Arbeit.
Dann wäre Bjorn eben gefahren.
Dann hätte ich mich nicht schuldig fühlen müssen.
Morgen hätte ich ihn angerufen und ihm alles gesagt.
Und morgen hätte ich es ihm dann übermorgen gesagt.
Doch Bjorn wartete fünf Minuten, alle zehn Sekunden klingelnd.
Nach fünf Minuten und dreiundzwanzig Sekunden öffnete ich die Tür.
Er hatte einen roten Pulli an, auf dem „slow“ stand.
Seine Haare waren verwuschelt und seine Hose zu klein.
Er rümpfte die Nase, hielt sie prüfend in die Luft, schaute mich argwöhnisch an, erst mein Gesicht, dann meine Brust, dann meine Beine.
Schließlich schüttelte er mich, schubste mich in mein Zimmer, öffnete meinen Schrank, kramte frische Sachen hervor.
„Jetzt komm“, murmelte er, zwängte mich hinein.
Ich war ein Kleinkind; ich war faul; ich hatte weder Verantwortung noch eine Zukunft.
„Öffnest du bitte die Fenster?“, fragte er mich.
„Mutter ist tot“, sagte ich.
Er lief in ihr Schlafzimmer. Er lief in die Küche. Er lief ins Wohnzimmer.
„Sie schläft doch nur“, flüsterte er.
Das war das erste Mal, dass mein großer Bruder log.
Ich nickte.
Er schüttelte sie. Er rief, „Wach auf!“. „Wach doch auf, hör auf, hör auf!“
Ich öffnete die Fenster für ihn.
Unter ihnen lagen Straßen mit Menschen, die in den Bus stiegen, die eine Zeitung lasen, die sich Essen kauften, um die Arme fielen, schlugen, heirateten, hassten, liebten und starben.
Da war eine Frau, die ihre kleine Tochter hinter sich herzog; sie schrie.
Ein Mann, der bettelnd unter einer Laterne hockte.
Eine alte Frau, die sich an ihren Rollator klammerte, während sie umknickte.
Dann weinte ich.
Mutter war nicht mit Stolz auf mich gestorben, und jetzt war es zu spät.
Anstatt sich wenigstens nach ihrem Tod gut um sie zu kümmern, hatte ich sie in ihrer eigenen Spucke vergammeln lassen und mich zwei Tage lang eingepisst in meinem Zimmer versteckt.
Ich war nicht erwachsen und auch nicht fähig dazu.
Nicht mal fähig, erwachsen zu spielen.
Wie konnte „Leben“ jetzt weitergehen, als Versager?
Meine kleine Angst in mir drinnen erlaubte mir nicht mehr, zu atmen.
Jedenfalls nicht so, dass ich es spürte.
Ich würde es nicht schaffen.
Die Wohnung, Arbeit, Familie.
Alles zu groß für mich.
Eine Stunde später lag Mutters Leichnam nicht mehr in der Wohnung.
Bjorn saß mit dem Rücken zu mir in der Küche, ein Glas Wasser in der Hand.
Ich stand im Türrahmen und zählte die Flecken auf der Schwelle.
„Welches Foto sollen wir in den roten Bilderrahmen stellen?“, fragte ich.
„Sie wollte dich reinmachen“, murmelte Bjorn.
„Klar“, erwiderte ich. „Ja, stimmt. Klar. Hat sie ja gesagt. Hm. Dann such ich mal ein Foto raus, okay?“
„Okay“, nickte er, und ich verließ die Küche.
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