Blindfisch

Blindfisch

von Natascha N. Hoefer

„Welches Kind will mir assistieren?“, fragte der Zauberer. Die Hände aller Grundschulkinder schossen in die Höhe; meine Hand auch. Der Blick des Zauberers glitt musternd die Reihen entlang. Ich glaube, ich habe ihn flehentlich angesehen. „Du!“, sagte er und zeigte auf mich.
Ich stand auf, trat schüchtern auf den Zauberer zu und spürte, wie alle uns anschauten. Der Zauberer nahm einen Ball, warf ihn hin und her, bis er plötzlich daneben griff. Die Kinder lachten.
„Holst du mir meinen Ball zurück?“, bat der Zauberer mich.
Ich versuchte, seinem Blick zu folgen, kniff die Augen zusammen. Die Kinder lachten lauter, weil ich wie festgenagelt dastand, anstatt dem Zauberer seinen Ball zu holen.
„Was ist nun, holst du meinen Ball?“, fragte der Zauberer mich erneut, aber ich stand noch immer. Ich konnte den Ball nirgendwo sehen!
„Na?“, fragte der Zauberer jetzt fast streng.
Dass ich ein kleiner Blindfisch war, das sah er nicht. Niemand konnte in meine blöden Augen hineinsehen und sehen, dass mein Augapfel nicht schön rund war, sondern ein liegendes Ei, deformiert, zu lang gezogen. Aber dass meine Augäpfel so aussehen müssen, habe ich selbst erst viel später begriffen.

Der Zauberer war ein Profi. Da das kleine Mädchen zu blöd war, um den Ball zu holen, der sich in eine lange Wurst verwandelt hatte, tat er es eben selbst, mit irgendeinem komischen Spruch (die Kinder lachten). Dann war ich entlassen, und ein anderes Kind assistierte ihm.
Naja, war nicht so schlimm. – Nein, das stimmt nicht. Es war schlimm. Ich war ein stolzes kleines Mädchen, und ich habe mich geschämt, schmerzlich geschämt, weil ich vor allen anderen Kindern als blöd dagestanden hatte. Natürlich wäre das nicht passiert, wenn ich meine Brille getragen hätte. Meine neue, verhasste Brille …

„So geht das aber nicht“, sagte Herr Fischer. Er war der Leiter des städtischen Tierheims, wo ich ein Betriebspraktikum machte. Herr Fischer wartete auf eine Reaktion von mir, aber es kam keine. Ich wusste nicht, worauf er hinauswollte, was ich falsch gemacht hatte.
„Da“, Herr Fischer wies auf den Boden des Zwingers, in eine Ecke. Ich sah nichts.
„Du musst besser saubermachen!“
Okay. Ich schluckte und nickte.
„Sag mal, kann es sein, dass du den Schmutz nicht richtig siehst? Beim Vorstellungsgespräch hattest du doch eine Brille?“
„Ich kehre gleich noch einmal“, wich ich aus und griff nach dem Besen.
Das Dumme an Blindfischen ist, sie werden immer blinder. Die Augäpfel wachsen und wachsen und werden dabei immer deformierter. Aber mit dreizehn Jahren ist es doch definitiv der falsche Zeitpunkt, die verhasste Brille öfter als in unausweichlichen Fällen zu tragen …

„Wie war’s im Tierheim?“, fragte mich am späten Nachmittag Claudi. Sie ging auf eine andere Schule, aber wir kannten uns schon ewig, aus der Kindergartenzeit.
„Heute Nachmittag durfte ich mit zwei Hunden Gassi gehen, das war schön; aber heute Morgen …“
„Hey, da ist Walter!“, unterbrach Claudi mich laut und bremste.
Wir waren mit den Fahrrädern unterwegs, den neuen. Das heißt, Claudi hatte ihres schon zur Konfirmation bekommen, ein Herren-Sportrad mit Zehngangschaltung. Das passte zu Claudi. Ich beneidete sie darum. Ich beneidete sie um ihr Rad. Da ich blöderweise nicht getauft war, hatte ich bei den Nachbarn Babysitting gemacht, um mir das Geld für ein ähnliches Fahrrad zusammenzusparen. Für ein teures Markenrad hatte es am Ende nicht gereicht, mein brandneues Herren-Sportrad war nur von Wertkauf. Aber immerhin hatte ich das langweilige schwarze Lenkerband durch eines in schreiendem Pink ausgetauscht. Ich fand das total cool.

„Boah, coole Räder!“, rief Walter jetzt aus, der sich vor uns aufgebaut hatte. Der Knirps war erst elf und hatte eine schulterlange Prinz-Eisenherz-Frisur; aber er war ein As im Karate-Verein, in dem auch Claudi und ich neuerdings angemeldet waren, und er hatte zwei interessante ältere Brüder. Deshalb hatte Claudi beschlossen, Walter „süß“ zu finden, nicht vorlaut.
Walter war aber vorlaut.
Er sagte: „Das von Herkules ist echt geil, aber das andere doch nicht so… Wo wollt ihr hin?“
„In die Villa, du Zwerg“, grinste Claudi.
Die Villa, so nannten wir das Jugendzentrum in einem Randbezirk unserer Stadt.
„Sascha ist auch da“, jetzt grinste Walter. Sascha war Walters ältester Bruder.
„Okay, let’s go“, rief Claudi aus und startete; ich ihr nach.

Vor der Villa ketteten wir unsere Fahrräder aneinander und gingen rein. Ich war leicht nervös, es war mein erstes Mal in der Villa. Ohne Fahrrad hätte ich eine selten fahrende Buslinie nehmen müssen, um von zuhause aus herzukommen – das hatte ich nie gemacht. In der Schule, in die ich ging, waren die Villa und der ganze Stadtteil hier etwas verrufen. Wer trotzdem herkam, war entsprechend angesehen.
Sofort wurde Claudi von Freunden begrüßt, die ich nicht kannte, und ehe ich mich versah, spielten wir Tischfußball. Claudi gegenüber stand Sascha; sein Partner hieß Mehmet. Mehmet war eher klein und schmächtig, wie ich, und hatte volles dunkles Haar. Vielmehr konnte ich von ihm nicht ausmachen, so über den Tischfußball-Tisch hinweg.
Claudi und ich verloren, aber knapp. Wir spielten noch einmal, gleiches Ergebnis.
Dann sagte Claudi: „Ich muss mal was trinken“, und sie ging. Mit Sascha.
„Spielen wir Tischtennis?“, fragte Mehmet.
Er hatte lustige Sprüche drauf und war schlagfertig. Ich fragte mich dauernd, wie er wohl aussah; sein Gesicht, meine ich.

Wir spielten Tischtennis. Das machte ich öfters, mit meinem kleinen Bruder. Mit Brille. Aber dieses Mal war ich richtig gut. Ich gewann und gewann gegen den super beeindruckten Mehmet. Meine Schlägerhand zuckte unfehlbar aus dem richtigen Instinkt heraus in die Richtung, aus der die kleine verschwommene Kugel angeschossen kam.
Ich war ziemlich high und erstaunt über mich selbst. Und ich war high, weil ich Mehmet aufregend fand. Sein Humor gefiel mir immer besser, und dass er über sein Verlieren lachen konnte, und dass er so dichtes schwarzes Haar hatte. Ich mochte dunkle Haare. Und Augen.

Irgendwann waren wir außer Puste, und andere wollten spielen.
„Was trinken?“, fragte Mehmet.
Und er holte mir eine kleine Flasche Cola. Wir setzten uns auf eine Bank. Mehmets Augen waren dunkelbraun, das sah ich jetzt gut, weil er mir plötzlich so nah war. Unsere Beine berührten sich, so eng saßen wir nebeneinander. Ich war aufgeregt. Ich hatte noch keinen Freund gehabt. Die Jungen, in die ich verliebt gewesen war, hatten entwickeltere Mädchen interessanter gefunden (ich war Klassenjüngste); und die Jungen, die in mich verliebt gewesen waren, hatten mir nicht gefallen. Jetzt saß ich neben einem Jungen, der mir gefiel. Und während wir über unsere Schulen redeten, schlich sich Mehmets Arm um meine Schultern …
Ich protestierte nicht. Ich hätte auch nicht gewusst, wie, obwohl es mir etwas schnell ging. Jemand rief etwas auf Türkisch, an Mehmet gerichtet; jemand lachte und pfiff. Mehmet lächelte mich an.
„Die sind eifersüchtig“, sagte er. „Du hast schöne blonde Haare.“
Und er nahm behutsam eine Strähne meiner langen Haare zwischen die Finger. Meine Haare waren allerdings braun. Plötzlich berührten seine Lippen zart meine Wange, ich wandte mich zu ihm, um ihm in die Augen zu sehen, da drückte sich sein auf meinen Mund– und dann, seine Zunge!
Erschrocken fuhr ich zurück. Erschrocken – angeekelt – zutiefst enttäuscht: So fühlte sich küssen an?! Küssen, dieses magische Ereignis, von dem so lange ich geträumt hatte?
Ich sprang auf, ging – wusste nicht, wohin, fand im Nebenraum Claudi, die mit Sascha knutschte.

„Ich muss heim“, sagte ich, und es war mir egal, die beiden zu stören.
„Was, jetzt schon? Ich gehe noch nicht!“, protestierte Claudi.
„Dann gib mir den Schlüssel vom Fahrradschloss!“
„Okay“, sagte Claudi gedehnt, aber dann: „Warte, ich komme mit.“
Nichts von Mehmet zu sehen, als wir die Villa verließen.

In der nächsten Woche war wieder Schule, und Sigrid, die ziemlich beliebt war, sprach mich an (tat sie sonst nie): „Hey, du warst in der Villa?“

„Ja, wieso?“
„Ich soll dir was von Mehmet ausrichten. Er sagt, es ist aus zwischen euch. Er geht jetzt auch mit einer anderen.“
Ich riss die Augen auf und die Brauen hoch. Ich hatte nicht gewusst, dass ich mit Mehmet gegangen war.
„Er sagt, es tut ihm leid, aber du bist eben noch ein kleines Mädchen …“
„Kein Problem. War sowieso mein letztes blind date“, sagte ich ironisch, ohne Sigrid den Witz zu erklären.

Mit Ende zwanzig ließ ich mir die Augen lasern. Es war ein phänomenales Gefühl. Ich wachte morgens auf, öffnete die Augen – und sah!!
Der Kollegin, die mich das erste Mal ohne Brille sah, rutschte spontan heraus: „Du hast ja richtig große, blau-grüne Augen! Die hat man nie hinter den dicken Gläsern gesehen!“
Aber der Mann, den ich liebte, sagte mir bei unserem ersten Wiedersehen nur: „Wie ungewohnt, so ohne Brille!“
„Sieht doch besser aus, oder?“, provozierte ich ihn.
„Du hast doch immer diese schönen, funkelnden Augen gehabt“, gab er achselzuckend zurück, als ob das selbstredend wäre.
Da wusste ich, dass auch ich ihm etwas bedeutete und dass der, der die Schönheit des Blindfischs erkannt hatte, der Richtige für mich war. Und sehenden Auges kam ich mit ihm zusammen.

P.S.: Küssen kann er auch.

 

 

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