Wartezeit

Wartezeit

 von Merle Peters

Mit feingliedrig, klammen Fingern klopft er auf das Sicherheitsglas des Wartehäuschens. Eher ein kaum fassbares Rascheln als ein wirkliches Klopfen. Tonlos senkt er sich auf den Asphalt, glitzert auf Windschutzscheiben und bunten Regenschirmen – oder zum Schutz erhobenen Schulordnern. Ich spüre ihn auf meinem Gesicht, ein zarter Film auf meiner Haut, der sich wahrscheinlich gerade mit der Foundation mischt und mein mühsam aufgepinseltes Ich zersetzt, fort wäscht und ungefragt enttarnt.

Meine Augenringe zum Beispiel, ideal abgehoben vor dem blassen Untergund meiner Hautfarbe, in Kosmetikerfachkreisen wahrscheinlich besser bekannt unter 00 Leiche oder 00 Tod. Oder den Pickel, blühend in roter runder Pracht, der sich zäh an meinen rechten Nasenflügel klammert und nun von seiner mühsam aufgearbeiteten, weißen Schutzchicht befreit wird. Ich ziehe eine Strähne feuchten Haars darüber, das langsam beginnt, sich vollzusaugen, und in weniger als zehn Minuten aufquellen wird auf zehnfaches Volumen.

Die, die aus dem Dschungel kam, sehr erfreut, stelle ich mich gedanklich bei der älteren Dame mit dem hässlichen Hund vor.
Ich frage mich, was wohl passiert, wenn ich ihr die durchsichtige Plastiktüte vom Kopf reiße um meine eigenen Haare zu retten, vor den Tropfen, die jetzt immer dicker werden.
Du bist ja nicht aus Zucker, höre ich meine Sportlehrerin sagen.
Dabei grinst sie herablassend.
Nein, antworte ich schwermütig. Aber ein Konstrukt aus Puder und Concealer.

Die Busanzeige ist gefangen in einer Zeitschleife. Sechs Minuten, an denen die zehn, in denen ich hier schon stehe, nicht gekratzt haben.Der Bürgersteig verstopft von wimmelnder, atmender Materie.Ein Trupp minderjähriger Kleinhirne schlingert durch die Menge, mit Eiern zu groß, um die Beine beim Laufen zusammenzuhalten und zu wenig Synapsen, um zu begreifen, dass Rotzeweitwurf nicht unter ergiebiges Balzverhalten fällt.
Weiße, altersbefleckte Knöchel umklammern panisch Handtaschen, und weiter unten steht eine Frau die eigentlich zu jung ist, um Mutter zu sein, mit einem Kinderwagen und zwei hysterischen Kleinkindern, die mit blauen Gesichtern wetteifern, wer am lautesten seinen Frust auf diese Welt herausschreien kann.
Fast möchte ich mitmachen.Bevor ich das tue, greife ich in meine Tasche, befördere die zur Zigarettenschachtel avancierte Pflasterdose hervor und pflücke eine Vorgedrehte heraus. Einer meiner Tricks, das hier zu überstehen, ohne mich vor nicht vorhandene Busräder zu schmeißen. Steckt das Leben nicht voller Möglichkeiten?

Gehe deinen Weg, fordert mich das überdimensionierte Plakat einer Fernschule auf.
Ich überlege.
Über den Bordsteinrand oder den Lungenkrebs?
Meine Wahl.
Der Busfahrer und alle Umstehenden oder der Onkologe – man kann es schließlich nicht jedem Recht machen! Trick Nummer zwei sind die Stöpsel in meinen Ohren. Leider haben sie Mühe, die Kakophonie zu übertönen. Gleichmäßige Beats, auf voller Lautstärke. Überlebenselixir.
Ich stecke die Kippe an, bevor der Regen der Sache als heldenhafte moralische Instanz einen Riegel vorschieben kann. Der Rauch steigt hinab, räuchert meine Lungen.Erst dann stoße ich ihn aus, zurück in die Atmosphäre dieses hässlichen Tages.Mein Moment Erleichterung, mein kurzer Moment Coolness.
Vor dem Spiegel probieren, wie das Rauchen am besten ein Teil von mir werden kann – meiner Stille, meines rebellischen Outlaw-Wesens, meiner allgemeinen Abgefucktheit – das ist vorbei. Mittlerweile liegt das Geheimnis wie Nikotin-Teerablagerungen in meinem Blut, und das Verlangen nach der nächsten ist schon lange nicht mehr gespielt. Ich entscheide gerne selbst, wie ich mich zugrunde richte.

Frau Holsten fährt vorbei. Hinter der Windschutzscheibe flackert ein vom Regen entstelltes Gesicht.Die Tropfen verziehen ihren Mund zu einem breiten Maul. Ich sehe gefletschte Zähne. So offenbart der Regen die wahre Natur eines jeden. Ein hässlicher, bleicher Teenager und ein Monster unter dem Deckmantel der sorgenden Lehrerin. Vielleicht sieht sie mich, ihre liebste Lieblingsschülerin, die ihr mit der Zigarette in den minderjährigen Händen den perfekten Vorwand für ein disziplinarisches Korrekturgespräch bietet.
Kurz bin ich versucht zu winken. Um der Situation Würze zu verleihen. Aber dann bleibe ich still stehen, grau verhüllt von den fallenden Tropfen und das Auto schwimmt vorüber. Trotzdem – in Gedanken ist es ihre Visage, in die ich die grauen Abgase meiner Kippe puste und dabei lächele. Gangsterwürdig. So wie sie das macht, wenn sie in seeligem Strahlen das Todesurteil über mein restliches Leben fällt.
Denn es gibt Regeln!
Höre ich ihre lächelnde Stimme aus den Untiefen des Hades klingen.
Jeder Mensch hat sich an Regeln zu halten. Auch du!
Und ja, so weit begreife ich. Es gibt sinnvolle Regeln. Sei nett zu deinen Mitmenschen, grenze niemanden aus, übe keine Gewalt, begegne deinem Gegenüber mit Respekt.
Und dann gibt es diese anderen Regeln, die schwerer zu wiegen scheinen.
Den Anweisungen des Lehrers ist fraglos Folge zu leisten.
An dem Punkt schleicht sich das Unverständnis vorwitzig aus meinem Mund.
Fraglos?
Das Wort bereitet mir Unbehagen. Irgendwo da, wo mein geschichtliches Wissen über die NS Zeit schlummert.
Man muss sich anpassen können. Man darf nicht aus dem Raster fallen.
Das sind ihre ungeschriebenen, eingemeißelten Gesetze. Die Gesetze des Lebens.Ihres Lebens allerdings, und sie versteht nicht, dass ich gar nicht aus dem Raster fallen kann, wenn ich davon nie Bestandteil war.

Ich lasse die Kippe in eine Pfütze segeln. Es zischt leise und das Gesicht meines Vaters dümpelt plötzlich neben dem Stummel. Anklagend, eine Dekade der Enttäuschung in den wässrigen Augen. Tja, das Leben ist ungerecht, erkläre ich ihm.
Man bekommt nicht immer, was man will.
Füße teilen sein Gesicht. Es spritzt nach allen Seiten, als die Gruppe Longchamp-Taschen in ihren Yetischuhen vorbeizieht. Irgendwie sehen sie aus wie Elefanten. Ungewöhnlich intellektlose, wasserstoffperoxidierte Elefanten. Das ist sonderbar, denn eigentlich mag ich Elefanten. Bei diesen ist das anders.
Die Mutterkuh wendet ihren blonden Schädel, mein Blick begegnet ihren Augen hinter denen gruselige Dinge vor sich gehen. Schwarze Materie, die emsig frisst. Sie ernährt sich von toter Gehirnmasse. Und bei ihr reicht es für ein Festmahl. Ich stelle mir vor, wie sie sich vor meinen Augen auflöst. Stück für selbstgefälliges Stück.
Als ich wieder hinschaue, ist sie enttäuschenderweise noch da und wirft mir ein süßliches Lächeln zu. Süßlich ist leider nicht gleich gut. Auch Leichen riechen süßlich.
„Na, du Zweete?“ schreit sie über die ganze Haltestelle und beweist so, dass sie sogar beim sprechen zu doof ist, für korrekte Rechtschreibung.
Ihre Herde kichert drauf los, glockenhell. Ein Lockruf und gleichzeitig eine Aufforderung für alle, es ihnen gleich zu tun.
„Die Antwort ist 42,“ teile ich ihnen zusammenhangslos mit und ernte ein paar sonderbare Blicke Umstehender.
Die Elefanten glotzen irritiert. Regen zersetzt sie genauso wie mich. Maskara malt schwarze Kreise um ihre Augen. Vielleicht, denke ich, ist Elefanten falsch. Waschbären möglicherweise passender.

Ich lächele, strahle in ihre Richtung. Sie sind gefangen in ihrem langweiligen Kreislauf. Sie werden BWL studieren. Sie werden brav studieren, heiraten, Kinder zeugen. Sie werden ewig darauf angewiesen sein, dass man sie geil findet.
Ich, ich werde irgendwann 18 und dann fange ich an zu leben – mein Leben. Und zwar genauso, wie ich es leben will. Vielleicht ohne zu studieren, vielleicht ohne zu heiraten, Kinder zu zeugen und ein Haus zu bauen. Vielleicht ohne ihre Billigung und zu ihrem Missfallen. Aber wenigstens, und das weiß ich schon jetzt – werde ich frei sein.
Der Bus schwimmt auf uns zu. Ich springe nicht schnell genug zurück, und das Wasser im Rinnstein trifft mich wie eine morgendliche Abwasserdusche. Hinter mir wiehert es – und dann muss auch ich lachen. Ich lache so laut, dass meine Wartegenossen erschrocken vor mir zurückweichen. Die Waschbären verstummen mit schockstarren Tiergesichtern.
Ich winke ihnen noch einmal zu, dann springe ich in den Bus, triefend und auf seltsame Weise glücklich.

 

 

2 thoughts on “Wartezeit

  1. Ich mochte deinen Text sehr gern! Vor allem deine metaphernreiche und sinnliche Sprache und der Blick auf die Details haben mir gut gefallen.

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