„Michael Ende, du hast mein Leben ruiniert“

„Michael Ende, du hast mein Leben ruiniert“
(Titel eines Songs von Tocotronic)

von fin

Ouverture

Die Welt brüllt.
Sie explodiert. Lauter! Greller! Heißer! Höher!
Sie schreit, sie blendet.
Alles rauscht.
Betonwände krachen aus dem Boden, brechen durch die Wolken.
Lichter blinken, blitzen, flackern; wie Messer, scharfe Messer, auf der Jagd nach Augenlichtern.
Glasfenster, Hauswände, Schuhkartonbauten sprengen sich empor.
Die Luft wird knapp.
Brücken überspannen Brücken überspannen Brücken.
Kreisverkehre unter Kreisverkehren über Brücken hinter Schnellstraßen neben Schnellstraßen unter Brücken über Kreisverkehren.
Schilder wuchern, krachen durch den Beton, werfen ihre Sporen in den Fahrtwind.
Und er steht da und regt sich nicht.
Er in Grau.
Leicht schräg gegen den Wind gelehnt. Rauchend.
Der Lärm der Welt schäumt um ihn auf.
Vielleicht ist er eine Wachsfigur.Er inhaliert förmlich Zigarre für Zigarre. Pafft die Zeit in Wölkchen, beeilt sich, die Minuten in seinen Lungenbläschen einzusammeln.
Dabei ist sein Gesicht gar nicht so alt.
Wo wollen wir hin?
Wer sind wir?
Vielleicht eine Wachsfigur? Zwei? Wie viele sind wir?

Wo hören wir auf? Wo fängt die Welt an?
Sind wir Betonwand und Lichtpunkt?
Rasen Blutkörperchen blitzend durch unsere Adern, brechen Härchen krachend aus unserer Haut?
Die Luft wird knapp.
Überspannen Venen über Venen über Arterien unter Adern hinter Knorpeln über Blutbahnen über Venen?
Wo sind wir zu Ende?
Vor oder hinter den Explosionen?

 

Intermezzo

Werden wir auch so werden? So… So erwachsen?
Werden wir auch im Familienkleinbus Einbahnstraßenrennen fahren, um im Einkaufszentrum alles vom Linienblog bis zum Grippemedikament auf einen Rutsch zu kriegen?
Werden wir Wachsfiguren in Grau und Beige?
Weißt du, das macht mir Angst. Stell dir meine blauen Haare als dunkelbraune Dauerwelle vor. Stell dir meinen Bierkastentisch mit Designertischdecke und Plastikblumen vor, und stell dir mal vor, ich rufe gegen Zwölf mittags, wenn du grad aufgestanden bist, aus dem Fenster: „Elsa, es gibt Graupenrisotto zum Mittag!“
Wird unser Leben sich um die Beschaffung von Öko-Outdoorsandalen drehen? Werden unsere Weltbewegungsmomente die knittrige Pappmedaille von Elfriede sein, weil sie als erste über eine weiße Linie im roten Sand gelaufen ist und Irmgards erste Yogastunde? Werden wir unseren eigenen Ilirjan haben, der nur eine Stunde am Tag sein Handy haben darf? Und auf wundersame Weise trotzdem besser FlappyBirds spielen kann als wir?
Hast du nicht auch Angst, eines Tages in der Biocompany zu stehen und hin und hergerissen zu sein zwischen Tante Tildes Gartenmix und Ernas bunten Gartenkräutern? Wann hast du das letzte Mal über einen Vornamen für deinen Salzstreuer nachgedacht?
Weißt du, ich glaube, die brauchen das. Was bleibt dir auch, zwischen Generalverdacht auf Mülltrennungssabotage, frisch aus dem Überraschungsei der Gentrifikation gepellten Eigentumswohnungen und einem Halbtagsjob mit Mutti- oder Vatizeit im Stillcafé Anneliese?
Ich glaube, es bleiben enttäuschte Hoffnungen. Nein, kein Studium macht dich zum Experten, und nein, Karriere macht eben doch nicht glücklich. Nein, mit Siebenunddreißg ist man nicht mehr cool, nein, die Zeit heilt nicht alle Wunden, und dein Mann wird auch nach zwanzig Jahren Erziehungsarbeit nicht liebenswerter, und nein, die Welt schuldet dir nichts.
Nein, du hast keinen der wilden Träume deiner Jugend gelebt, du warst nicht mal in Australien.

Wo bleibt das Leben, wenn man angekommen bist? Wenn aus großen Versprechen Schnittenschmieren um Sieben Uhr Fünfzehn geworden ist und man eigentlich immer noch nicht weiß, wo man angekommen ist, nur, dass man es zu sein scheint, und mit der Kerze auf dem Tisch und drei gebastelten Papiersternen am Fenster fühlt es sich ja fast schon wie zu Hause an.
Dann brauchen sie das. Die Meditation, um sich zu finden, wenn schon nicht das Glück.
Die Yogaseminare, um einmal, wenigstens dieses eine Mal, das hart verdiente Geld für sich selbst auszugeben.
Urlaubsfotos von der Ostsee bei Facebook, Frühstückssmoothies mit Sellerie für einen frischen Start in den Tag und Kräuterkunde in der Mittagspause, Bildung hört nicht mit dem Studium auf. Den Minigarten auf dem Balkon, damit sie vergessen, dass sie in der Stadt wohnen, die jährlichen XY Krankheitstage, damit sie nicht auf die Idee kommen, es ginge ihnen gut.
Erinnerst du dich an die Zeit, als wir noch optimistisch waren? Als unsere Eltern in einen strahlenden Himmel zeigten, in Richtung goldene, und wenn schon nicht golden, dann wenigstens sonnige, Zukunft, und wir uns ganz fest an unserem Drachen festhielten und mit ihm in den blendenden Sonnenschein aufstiegen? Nein, ich auch nicht.
Optimismus, das war immer diese ferne Sehnsucht, aber nach außen war er einfach nur die Dummheit der Naiven, und weil naiv irgendwie schlecht war, wollten wir es nicht sein.
Winter is coming, sagt Game of Thrones, aber hier ist immer Winter, und da gibt es keinen Platz für Drachensteigen und Sonnenzukunft. Da gibt es nur Prognosen.
Prognose eins, U-Bahnstation, Prognose zwei, umsteigen, Prognose drei, wieder zurück, Prognose vier, was stand noch mal an der Tafel? Prognose fünf, Urne, weil Särge zu viel Platz wegnehmen. Ein Leben am unteren Ende der Rolltreppen, aber wenn man sich ganz viel Mühe gibt, wird die Haut auch von Neonröhren braun.
Das ist Monopoly Speed, ziehen Sie hier eine Line, dann rasen Sie, aber nicht über Los; es gibt keine Häuser zu kaufen, nur U-Bahnstationen zu mieten und wenn die weg sind, gäbe es da noch die Bahnhofsschließfächer. Nur nicht die ganz unten, die kleben immer so von der Pisse.
Als wir Kinder waren, haben wir noch gelangweilt Monopoly gespielt – War das jetzt Sarkasmus oder nur eigenwillig gutgemeint?

Aber euer Pessimismus kotzt mich an!

Wir wollen nicht mehr in U-Bahntunneln leben.
Wir brauchen keine Entschlackungsdiät, um uns wohl zu fühlen, und bräunen uns im Sonnenschein, sogar im Winter!
Wir sind jung, und wir werden alt. Wir haben Zeit. Auf uns wartet kein Arbeitsmarkt sondern eine Welt voller Wunder.

Mit den Köpfen in den Wolken spielen wir euch ein Bodenständchen: Erst wenn der Subwoofer die Katze inhaliert, fickt der Bass so richtig.
Wir werden vermutlich über 75 Jahre alt. Was sind da schon ein halbes, ein Jahr Scheinstudententum?
Ihr habt mir vorgeworfen, mein Leben zu verschwenden, und ich habe vorrangig mit Michael Ende argumentiert. Zeit ist relativ, Zeitverschwendung auch. Ihr habt mit Lebensläufen argumentiert, ich mit Flussläufen und Schmelzwasser; ihr habt mich vor gefährlichen Lücken gewarnt, ich euch vor grauen Herren und ihren Zigarren; ihr habt mich „doch vernunftbegabt“ genannt, ich halte fest: Pure Vernunft darf niemals siegen! Ihr habt den Fleiß zu einem Wert stilisiert, ich finde, Faulheit ist kein Verbrechen, sondern eine Lebenseinstellung.
Ihr habt gesagt, nimm alles an, ich habe erwidert, sagt alles ab!
Ihr habt verlangt, ich habe vorgeschlagen; ihr habt Gefahren gesehen, ich Chancen, ihr fürchtet euch vor dem Tod und noch mehr vor dem Alter, ich werde später in einem Schaukelstuhl sitzen und die Zigarre selbst geraucht haben: Und sie wird sehr gut geschmeckt haben.

So viele Möglichkeiten, ruft ihr entsetzt, und drückt uns einen Stapel Spielkarten in die Hand.
So wenig Platz zum Karten hinlegen, denken wir und keine Zeit zum Karten angucken. Ablegen, so schnell wie möglich, wer als erstes keine mehr auf der Hand hat, ist Sieger, was auch immer das bedeuten mag.
Ich finde das gruselig.

„Wer hat die Karten verteilt?“, fragt jemand und erntet Schweigen.
„Worum spielen wir?“, erneutes Schweigen.
Neben uns tickt eine Stoppuhr; die Karten sind nur Leihgaben, zur Frist unversehrt zurückzugeben für die nächsten, und bitte hinterlassen Sie das Material so, wie Sie es vorfinden möchten.
Das finde ich noch gruseliger.

Aber wir können doch improvisieren.
Wir können die Karten neu verteilen, neu interpretieren, endlich mal den Ramsch hier aufräumen und mehr Platz schaffen; und wir werden ja eh alles besser machen?
Das finde ich noch viel gruseliger.
Aber weißt du, was ich am gruseligsten finde?
Dass wir auch so eine Generation sind. Wir machen fast alle Abi. Wir glauben doch auch alle, mit unserem Maschinenbaustudium der solide Mittelstand zu sein, und, hoppla, schon ist der Mittelstand wieder um einen Schreihals gewachsen. Wir finden den Kapitalismus doch genauso scheiße und wollen lieber in Eigenversorgung leben. Haben aber doch ein mulmiges Gefühl, wenn jemand Anarchie sagt und wenn wir vor der Wahl stehen, sieht Starbucks einfach cooler aus. Wir sind genauso eine gequälte Generation zwischen Reformationswünschen und Inkonsequenz, und wenn unsere Matratze Moon heißt, ist sie uns plötzlich viel sympathischer.
Wir sitzen mit Bindungsstörungen und Pubertät beim Psychologen und sind bereits mit siebzehn Weltmeister im Jammern.

Coda

Ich merke, wie sich meine Haare ganz langsam braun färben und bereits leicht zu Dauerwellen locken, mein Blick gleitet aus dem Fenster, der Himmel dahinter ist nur noch zur Hälfte blau. Die andere Hälfte ist plötzlich von einem großen grauen Wohnblock versperrt, und ganz oben, kaum erkennbar, vom Dach herunterhängend glaube ich die Kanten einer überdimensionalen Designertischdecke zu erkennen.
Also, mein Salzstreuer heißt Jonathan.

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