Vom Ankommen. Vom Wurzeln Haben und welche Bilden. Vom Vergessensein und -werden.
Rezension von Walther
Saša Stanišić, Herkunft, Luchterhand Literaturverlag, München 2019, ISBN: 978-3-630-87473-9, Hardcover mit Schutzumschlag, 368 S., 22 Euro
Dass das Buch Herkunft den Deutschen Buchpreis 2019 erhalten hat, wundert nicht, wenn man es gelesen hat. Das gilt durchaus nicht für alle bepreisten Bücher. Manchmal fragt man sich selbst als geschulter Bücherleser und -rezensent schon, wie es zu diesem Preis kam.
Ursprünglich war gedacht, die Besprechung mitsamt Interview in der Aufgabe von zugetextet.com mit dem Themen-Duo Weltstaat/Zersplitterung zu veröffentlichen. Es hat nicht sollen sein, weil der Romancier im Augenblick alle Interviews ablehnt. Nach dem Buchpreis-Hype mag man das verstehen. Schade ist es trotzdem. Also erscheint die Besprechung ohne Interview auf dem Blog. Buch und Gespräch hätten zum Thema und die Druckausgabe gepasst.
Die aktuelle Pandemie wirft ein Schlaglicht auf die menschliche Art. Der homo sapiens war und ist immer unterwegs. Er wird es bleiben, bis dieser Planet ihn abschüttelt. Er ist auf der Suche nach Nahrung, nach Frieden, Freiheit, Lebenschancen. Und er sucht Erklärungen für alles, was um ihn ist. Forschen, das vergessen wir gern, ist ebenfalls Reisen. Das Ertrinken mit Mittelmeer und das Abweisen der Fremden sind Spiegel einer Entwicklung, die nicht weg zu blenden sind. Sie bleiben. Und mit dem sich auf den Weg Machen kommen Vergangenheiten und Bezüge mit. Es entsteht Verlust auf der einen und Ablehnung auf der anderen Seite.
Das ist ein Aspekt des Buchs, der durch den Gedächtnis- und Persönlichkeitsverlust der Großmutter überlagert wird und ihn zugleich unters Brennglas nimmt: Wo komme ich her. Wann komme ich an. Darf ich überhaupt ankommen. Gibt es eine offene Tür für mich. Kommt der Krieg mit mir mit. Wer bin ich, wenn mit meiner Großmutter mein Gedächtnis stirbt. Was bleibt von dem Ort, von dem ich kam, wenn die Person, die es vermittelte, wegdämmert. Und sie geht, bevor sie tot ist, und bleibt mir Antworten schuldig. Ist das fair. Warum habe ich mich nicht gekümmert, als es noch ging.
Die Drachen sind eine unterschätzte Spezies und haben Mythen- und Märchenpotential. Die Schnitzeljagd, auf der uns Leser der Autor schickt, mit Ein- und Ausgängen, mit Varianten von Zukünften und Vergangenheiten führt uns durch die Spiegelsäle unserer Erinnerungen, und die Spiegel verblassen. Sie tun das, bevor wir das Gedächtnis verlieren. Sie werden im Lauf der Zeit zu Déjà-vus, die täuschen und enttäuschen. Am Ende bleiben Märchen und Verlust, manchmal erhellt durch ein Lächeln eines lieben Menschen, durch ein Erlebnis, das heraussticht und das Dunkel auf einmal ausleuchtet, so hell, dass die Sonne strahlt, obgleich es dunkelste Nacht ist, in der die Erinnerungen erwachen und spuken.
Unter dem Ganzen liegt die Flucht, erzwungen durch einen Bürgerkrieg in einem Staat, der sich als Modell für die Aussöhnung von Nationalismen verstand, nicht nur, aber auch. Als Jugoslawien zerfiel, blieb der deutsche Jugo übrig, der wegen der wirtschaftlichen Not nach Deutschland und in andere Länder ausgewanderte. Und es blieben Familiengeschichten, die mit dem Sterben der Alten zugleich Hoffnungen begraben, den Nachhall aus einer Zeit, als es egal war, ob man muslimischer Bosnier, katholischer Kroate oder Slowene oder orthodoxer Serbe war: Die Liebe zählte, und sie gebar Kinder wie den Autor, die heute aus der Zeit gefallen zu sein scheinen und dort nicht mehr leben können, wo sie geboren wurden.
Es ist Zeit, sie wenigstens bei uns ankommen zu lassen, damit neue Herkünfte entstehen können, in denen Frieden die Rahmenhandlung bildet. Wie sehr Zuwanderung in Wahrheit bereichert, zeigen dieses Buch und der deutsche Buchpreis, die es zurecht erhalten hat. Es wäre zu wünschen, wenn es gelänge, nach dem Buch den Menschen, die gekommen sind, um zu bleiben, eine Heimat zu geben und die Lust, weiterhin Drachengeschichten zu erzählen, wie wir sie brauchen, weil Märchen wichtiger sind als Krieg, Vertreiben, Mord und Totschlag. Und Fremdenhass.
Das Buch ist in Sprache, Form und Textgestaltung innovativ und liegt quer zu mehreren belletristischen Genres. Dieses Experiment ist gelungen. Eines gilt es hervorzuheben. Es sollte unbedingt gelesen werden, am besten von allen, die der deutschen Sprache mächtig sind.
Netfinder:
Verlag: www.luchterhand-verlag.de
Autor: http://kuenstlicht.de/
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