Nat King Cole (1946) - Public Domain loc.gov

Jazzgeschichten: One Hit Wonder

Ein Naturbursche schreibt einen Mega-Hit

Eine Jazzgeschichte von Dieter Feist

Für seine Talkshow we the people hat sich Fred Allen zum 1. Juni 1948 einen besonderen Gast eingeladen: den geheimnisvollen Komponisten eines Songs, mit dem  der Sänger Nat ‚King‘ Cole praktisch über Nacht an der Spitze der Charts gelandet ist. Ein Nummerngirl hält ein Schild mit dem Titel in die Kamera und im weichen Geigenklang ertönen die ersten Takte der Melodie.

Noch während der Anmoderation kommt der ungewöhnliche Gast auch schon aus der Kulisse: ein kleiner drahtiger Mann mit schulterlangen Haaren, Rauschebart und in weiten Gewändern. Zum großen Erstaunen des Publikums schiebt er ein Rennrad neben sich her.

„Er studiert orientalische Mythologie und ist ein frommer Yogi“, sagt Allen gerade mit einem irritierten Seitenblick, „sein Name ist Eden Ahbez und er bringt sein Fahrrad mit auf die Gulf-Oil-Bühne.“ Der Sponsor muss noch rasch erwähnt werden.

Da hat der Gast das Rad bereits abgelegt und sich davor im Schneidersitz auf dem Boden niedergelassen. Das geht alles viel schneller, als von der Regie vorgesehen, und der Moderator sieht zu, dass er sich herunterbeugt, um das Interview zu beginnen.

 

 

Der Türsteher am Bühneneingang des Lincoln Theater ist genervt. Seit einer Stunde steht da draußen ein komischer Typ, der immer wieder klopft und immer wieder dasselbe herunterleiert.

„Bitte, ich möchte zu Mr. Cole, ich muss ihm das hier persönlich übergeben.“

Er sieht irgendwie aus wie dieser Riesen-Christus, den sie bei Rio de Janeiro aufgestellt haben, lange Haare, langer Bart, weite Gewänder, aber seine Arme sind nicht segnend ausgebreitet, sondern gestikulieren herum, und in der Hand hält er den Zettel, den Mr. Cole unbedingt bekommen soll. Er ist schon ganz zerknittert, weil er ihn nach jedem vergeblichen Anlauf wieder in einen seiner weiten Ärmel steckt.

Ein Autogrammjäger? Ein hartnäckiger Fan mit einer persönlichen Botschaft? Ein Spinner jedenfalls, so wie es aussieht.

„Ich hab dir doch schon gesagt, ich darf hier keinen reinlassen, Mr. Cole hat…“

Nat Cole, der, seit er berühmt geworden ist, den Beinamen ‚King‘ trägt, hat sich ausdrücklich verbeten, dass irgendwelche Amateure zu ihm vorgelassen werden, um ihm Vorschläge für Songs zu unterbreiten. Manchmal ist er in seiner Garderobe regelrecht belagert worden.

„Sehen Sie“, sagt der Langhaarige, glättet das Blatt ein weiteres Mal zwischen seinen Händen und hält es dem Türsteher unter die Nase, „ich habe das speziell für ihn geschrieben und es ist wichtig, dass…“

Also doch wieder ein neuer Song, den der ‚King‘ unbedingt singen soll.

„Okay, gib her, ich werd’s im zukommen lassen.“

 

Im August 1947 gibt Nat King Cole eine Reihe erfolgreicher Konzerte im Lincoln Theatre in Los Angeles. Seit er nicht mehr nur als Jazz-Pianist auftritt, sondern als Sänger, geht seine Karriere stetig bergauf. Seine samtene Stimme, meist begleitet von Chorsängern und Streichern, garantiert volle Säle und die Schallplatten verkaufen sich gut. Als Crooner kann er es nicht ganz mit Frank Sinatra aufnehmen, der den strahlenden Star vor allem der weiblichen Jugend gibt, aber für einen schwarzen Entertainer feiert er beachtliche Erfolge – bei einem reiferen Publikum.

Am Abend des 15. August entspannt sich Nat Cole nach dem Konzert in seiner Garderobe. An diesem Freitag hat er mit seinem Trio und den drei Background-Sängern einen gelungenen Auftritt hingelegt, findet er, am folgenden Abend kommt noch ein kleines Streichorchester dazu, und es werden Aufnahmen gemacht.

Er zündet sich gerade eine Zigarette an, als es klopft.

„Das wurde vorhin für Sie abgegeben.“

Ein Blatt Papier, bisschen vergilbt, schon reichlich mitgenommen. Aber jemand hat darauf sorgfältig von Hand Notenlinien gezogen und darunter ist sauber der Text geschrieben. Das ist keine flüchtige Notiz, da hat sich jemand Mühe gegeben. Nature Boy steht oben in schnörkeliger Schrift.

Cole summt die Melodie vor sich hin. Klingt gut. Moll, Dreivierteltakt. Er geht hinüber in den Probensaal und klappt den Flügel auf, probiert die Begleitung und beginnt leise zu singen.

There was a boy

A very strange, enchanted boy

Merkwürdige Geschichte von einem verzauberten schüchternen Jungen mit traurigen Augen.

A little shy and sad of eyes

But very wise was he.

Eingängige Melodie, elegisch, schön, weil sie einfach gehalten ist, aber dann hier…

And while we spoke of many things

Fools and kings

…hier wandert sie chromatisch abwärts, was ihr einen besonderen Reiz verleiht.

The greatest thing you’ll ever learn

Is just to love and be loved in return

Diesen Song hat kein Dilettant geschrieben. Noch in der Nacht beschließt Cole, ihn am Samstagabend auf die Bühne zu bringen. Zumindest für das Trio und die Sänger wird es kein Problem sein, das Lied kurz vor dem Konzert einzuüben. Später wird man noch ein Arrangement für die Streicher finden.

 

Die Aufnahme hört sich gut an. Cole hat Nature Boy beim Konzert im zweiten Set platziert, kurz vor den Höhepunkt der Show, und – überraschend wurde er selbst zum Höhepunkt.

Doch der Produzent von Capitol Records hat Bedenken, den Song auf der Schallplatte zu veröffentlichen.

„Klar, wir kennen den Komponisten nicht.“ Und wenn dann plötzlich jemand kommt und Rechte einfordert, muss die ganze Auflage eingestampft werden.

 

 

George Alexander Aberle kommt im April 1908 im New Yorker Stadtteil Brooklyn in einer Familie mit dreizehn Kindern zur Welt. Die ersten Lebensjahre verbringt er in einem jüdischen Waisenhaus, mit neun Jahren wird er adoptiert und wächst als George McGrew auf einer Farm in Kansas auf. Noch nicht volljährig geworden, verlässt er sein Elternhaus und schlägt sich in Kansas City als Pianist in Bars und Tanzkapellen durch. Ein schmales Leben, ohne große Zukunft. George spürt, wie ihm die Welt im Mittelwesten allmählich zu eng wird. Er durchquert ein paarmal die USA, zu Fuß, per Autostopp oder er springt wie ein Hobo auf Güterzüge auf, und landet schließlich in Kalifornien, das in den 1940er Jahren für viele junge Menschen zum Anziehungspunkt wird. Es ist nicht nur der sunshine state, der sie anlockt; California steht als Begriff für eine gute Atmosphäre, eine offene Mentalität, für ein Leben, das viel freier ist als anderswo in den USA.

 

Das Eutropheon am Laurel Cayon Boulevard in Los Angeles ist ein Naturkostladen mit einem angeschlossenen Restaurant. So ein Betrieb läuft besser, wenn es Live-Musik gibt, aber die Pianisten, die bisher beschäftigt waren, spulten lediglich ihr übliches Nacht-Club-Repertoire ab. Als George McGrew, 1941 gerade in Los Angeles angekommen, im Eutropheon vorspielt, wird er sofort engagiert. Seine Art Klavier zu spielen ist anders, etwas ungewöhnlich, aber sehr gefühlvoll.

Vera und John Richter, die Betreiber des Eutropheon, sind glühende Verfechter der aus Europa stammenden Naturmensch– und Lebensreform-Philosophie, einer Lehre, die den Errungenschaften der modernen Zivilisation ablehnend gegenübersteht und stattdessen eine Umkehr zu naturverbundenen Daseinsformen fordert.

George McGrew verschlingt die Schriften, die ihm die Richters zur Verfügung stellen, er hat das Gefühl, dass das ein Ausweg sein kann aus seinem bisherigen, bescheidenen Dasein. Zunächst einmal – ein erster Schritt – wird er zum Vegetarier. Dann erfährt er, dass die Lebensreform-Bewegung in Kalifornien bereits eine eigene Anhängerschaft gebildet hat, die sich Nature Boys nennt, beziehungsweise Gypsy Boots, was weniger mit der Minderheit der Gypsies in Europa zu tun hat, als mit dem Namen des Begründers. Robert Bootzin, Sohn jüdisch-russischer Einwanderer, ist ein Prophet alternativer Lebensweisen. Der Beiname Gypsy dient der Abgrenzung zum bürgerlichen Leben. Er lehrt Yoga und rät zu sparsamer, naturnaher Ernährung. Seine Anhänger sind leicht zu erkennen: Sie tragen weite, weiße Kleidung und Sandalen an den Füßen, die Männer haben schulterlange Haare und ungestutzte Bärte.

Vera und John Richter bedauern es sehr, als ihr Pianist im Eutropheon kündigt, aber sie haben Verständnis.

George McGrew verschwindet erneut in ein anderes Leben. Bei den Gypsy Boots nennt er sich eden ahbez und besteht darauf, dass der Name  kleingeschrieben wird, denn Großbuchstaben seien allein dem Göttlichen vorbehalten. Mit einer gleichgesinnten Frau zieht er schließlich in die kalifornischen Berge, um im Einklang mit der Natur zu leben.

 

 

Nature Boy in der Version mit Streichorchester ist der Renner bei Nat King Coles Konzerten, oft wird er als Zugabe noch einmal verlangt. Es gibt auch eine Aufnahme, die allerdings erst herauskommen darf, wenn der Urheber bekannt ist.

Es dauert ein paar Wochen, bis er gefunden wird. Man fragt in den Künstlervierteln von Los Angeles herum, spürt den Türsteher des Lincoln Theatre auf, der den bewussten Zettel im Sommer entgegengenommen hat, und nach dessen Beschreibung gerät man endlich an die richtigen Kreise. eden ahbez, der Musiker? Vermutlich sei er downtown im Griffith Park zu finden, und wenn nicht, dann wohl droben in den Bergen. Hinter dem linken ‚L‘ des riesigen Hollywood Schriftzugs stöbert man ihn schließlich auf, wo er mit seiner Frau Anna lebt. Der Besitz des Paares ist überschaubar: ein Schlafsack, ein Handtuch, ein paar Trinkbecher, zwei Messer, eine Saftpresse – und: ein Rennrad.

 

 

„Ahbe!“ So lässt sich eden ahbez von seinen Freunden nennen. In seiner Talkshow we the people ist Fred Allen jedermanns Freund, zumindest solange die Sendung on air ist. „Ahbe“, sagt er also und geht neben seinem Gast in die Hocke, „wie ist es denn dazu gekommen, dass Sie Nature Boy geschrieben haben?“

Ahbe ist vom Rampenlicht und von dem Rummel, der da um seine Person gemacht wird, sichtlich überfordert. Natürlich ist das Interview vor der Show abgesprochen worden, aber um ja nichts Falsches zu sagen, hat er sich die Antworten, die er geben soll, vor dem Auftritt rasch noch aufgeschrieben.

Die Verschiedenheit der Welten, die hier aufeinandertreffen, war schon offenbar geworden, als ahbez nach der Reise über den ganzen Kontinent in New York ankam. Er lehnte das vorgebuchte Hotel ab und wollte lieber im Central Park übernachten.

„Nature Boy“, liest er von seinem Zettel ab, „ist die wahre Geschichte meines Lebens.“ Und ohne den Moderator auch nur anzusehen und weitere Fragen abzuwarten, erzählt er von seiner Suche nach Gott und von der Sinfonie der Natur, der zu lauschen, und mit der in Einklang zu leben das wichtigste…

We the People dauert nur eine halbe Stunde und Fred Allen muss dem Gast ins Wort fallen, um allmählich auf den Höhepunkt der Show zuzusteuern.

„Kennen Sie King Cole?“

„Nein“, liest ahbez, „ich bin diesem Mann noch nie begegnet, der eine so wichtige Rolle in meinem Leben spielt.“

Endlich das entscheidende Stichwort.

„Dann werden Sie ihn jetzt kennenlernen. King Cole ist für we the people extra aus Chicago angereist, um Sie zu treffen. Hier ist…“

Der steht schon vereinbarungsgemäß bereit, als ihn die Kamera erfasst, jetzt erhebt sich auch ahbez aus dem Schneidersitz und man schüttelt sich die Hände.

„Nice to meet you!“

Erstaunlicherweise liest auch Cole seine warmen Dankesworte von einem Manuskript ab.

Was, will Fred Allen dann wissen, wird ahbe nun mit diesem Haufen Geld anfangen wird, das er mit dem Hit verdient.

„Alles Geld der Welt…“ ahbez spricht plötzlich frei und ohne abzulesen, „würde an meiner Art zu leben nichts ändern, weil es mir nichts bringen kann, was ich nicht schon habe. Nur das einfache Leben in der Natur gibt mir Glück und Frieden.“

So geht es noch eine Weile, dann signalisiert die Regie: es ist Zeit für die Musik. An der Seite öffnet sich ein Vorhang, King Cole tritt vor sein Orchester und singt.

There was a boy…

 

 

Hier endet die anekdotische Geschichte vom Naturburschen, der zufällig einen großen Hit geschrieben hat. Der kleine, traurige Song mit dem geheimnisvollen Text ist im Showbusiness angekommen, einer Welt, die dem Gypsy Boots-Jünger völlig rätselhaft ist.

Als Nat King Coles Schallplatte im März 1948 herauskommt, verkauft sie sich schon in den ersten vier Wochen mehr als seine Million mal und besetzt für sensationelle achtzehn Wochen den Platz eins der US-Charts. Kein anderer Song spielt in diesem Jahr mehr Geld ein, als Nature Boy. Noch im Frühjahr erscheint Frank Sinatras Version, ein paar Wochen später die von Sarah Vaughan – beide schaffen es bis in die Top-Ten.

Der wirtschaftliche Erfolg wird auch dadurch nicht geschmälert, dass der Schauspieler Herman Yablokoff, der jiddische Lieder nach eigenen Texten schreibt und sie auch selber vorträgt, durch einen Anwalt geltend macht, dass die Melodie von Nature Boy im Wesentlichen auf seinen Song Shvayg mayn harts zurückgeht. ahbez, vom Gericht dazu befragt, gibt an, die Melodie sei ihm im Nebel der kalifornischen Berge zugeflogen.

Der Kuchen aber ist längst aufgeteilt. Noch vor dem Erscheinen der Ersteinspielung hat der geschäftstüchtige Musical-Komponist Irving Berlin fünfzig Prozent der Rechte an Nature Boy erworben, ein Viertel geht an den Interpreten Nat King Cole. ahbez, an materiellen Werten völlig uninteressiert, überlässt die Hälfte seines Viertels dem Angestellten, der seine zerknitterte Notiz einst dem Sänger ausgehändigt hat. Danach bleibt ihm immer noch eine für ihn unfassbare Menge Geld – nach heutiger Rechnung mehrere Hunderttausend Dollar. „Ich werde das irgendwo hinpacken, wo ich nicht rankomme“, beantwortet er die Frage eines Journalisten.

Herman Yablokoff wird in einem außergerichtlichen Vergleich mit 25000 Dollar abgefunden.

 

Für eden ahbez ist nach dem Auftritt in Frank Allens Talkshow die Ruhe in den Bergen über Hollywood erst einmal dahin. Plötzlich will alle Welt wissen, wie dieser Aussteiger so wundervoll asketisch unter freiem Himmel lebt mit seiner schwangeren Frau, und die Reporter verfolgen ihn hinauf bis hinter das linke ‚L‘. Er ist auf den Titelseiten von ‚Time‘, ‚Life‘ und ‚Newsweek‘ zu sehen. Arglos trinkt er vor laufenden Kameras Ziegenmilch und preist die Segnungen des einfachen Lebens, oder er posiert im Yoga-Sitz auf klüftigen Felsen in sprudelnden Wasserläufen. Die vielen Angebote für Reklamefotos und Werbespots lehnt er ab.

Dann ist plötzlich Schluss damit. Anna hat ein Kind zur Welt gebracht und die naturverbundene Familie ist auch unter dem Hollywood Sign nicht mehr auffindbar.

 

Nature Boy mit seiner merkwürdigen Melodie und seinem kryptischen Test setzt indes seinen Siegeszug fort. Schnulzensänger und Gesangsensembles bringen ihn erfolgreich heraus und natürlich wird auch der Jazz aufmerksam, der ja seit jeher sein Ausgangsmaterial in der Pop-Musik sucht. Und dieser Song ist gerade deshalb interessant, weil er sich in seiner Struktur von den üblichen Kompositionen des Great American Songbook abhebt. Nach Miles Davis‘ Aufnahme von 1955 wird Nature Boy zum Jazz-Standard.

 

Das Strohfeuer des öffentlichen Interesses an eden ahbez ist da schon längst wieder verraucht. Er lebt im Irgendwo und unerkannt, die Musik aber hat ihn nicht verlassen. Er lässt auf verschlungenen Wegen Nat King Cole einen weiteren Vorschlag zukommen – Land of Love, wird sogar von Doris Day interpretiert.

Um 1960 kehrt er vorübergehend in die Zivilisation zurück, um in einem Studio eigene Musik aufzunehmen – eine merkwürdige Mischung aus Klavierspiel, Gesang und allerlei exotischen Instrumenten. Zehn Jahre später, in der Hippie-Bewegung, hätte er gewiss damit Erfolg gehabt; den Flop der Platte finanziert er aus den Tantiemen für Nature Boy.

Danach verliert sich seine Spur. Später wird bekannt, dass er 1963 Jahren seine Frau verlor und vier Jahre später seinen Sohn; danach fast drei Jahrzehnte selbstgewählter Einsamkeit.

Am 4. März 1995 stirbt eden ahbez, nachdem er von einem Auto überfahren wurde.

 

 

März 2021

 

Links

eden ahbez als Gast bei we the people 1948

https://www.youtube.com/watch?v=2UVpj0K6RO0

https://www.youtube.com/watch?v=U7ddLymh8vE

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