Herr von Schwarz
von Marlene Fleißig
Eines Tages stieg der schwarze Anzug, der mit dem Knick im Kragen, von seinem Bügel und setzte sich neben Paul auf die Bettkante.
„Guten Abend“, sagte der Anzug.
„Hallo“, antwortete Paul und zog vorsichtshalber die Decke noch ein Stückchen höher, bis zum Kinn. Das Licht der Straßenlaterne, das durch die Vorhänge hereinfiel, malte Streifen auf den weichen Stoff. Ansonsten war es in Pauls Zimmer ganz dunkel.
„Du brauchst keine Angst zu haben“, sagte der Anzug und ließ aufmunternd den rechten Ärmel flattern.
„Hab ich gar nicht“, erwiderte Paul schnell, aber vielleicht ein bisschen zu leise, denn der Anzug verschränkte vorwurfsvoll die Arme. Seit vier Tagen hatte er auf dem Bügel in Pauls Zimmer gehangen, am Haken neben dem Kleiderschrank. Daneben noch eine schwarze Bluse von Pauls Mutter, die er noch nie an ihr gesehen hatte, und Pauls einziges eigenes Hemd, frisch gestärkt, zusammen mit einer dunklen Stoffhose.
„Wer bist du?“, fragte Paul den nächtlichen Besucher. Er wollte den Anzug nicht kränken.
„Ich“, gab dieser zurück, „bin Herr von Schwarz“.
„Ich bin Paul“, erwiderte Paul höflich, aber konnte es sich nicht verkneifen, einzuwerfen: „So schwarz siehst du gar nicht aus“.
Tatsächlich war der Anzug, eine Hose mit strenger Bügelfalte, die akkurat zusammengelegt unter dem Jackett Größe 42 hing, das etwas abgenutzt an den Ärmeln war und besagten Knick im Kragen hatte, bestenfalls anthrazit.
„Aber ich war es Mal“, seufzte Herr von Schwarz und die Ärmel wirkten in diesem Moment noch abgenutzter. Paul ließ die Decke sinken und setzte sich auf.
„Was ist passiert? Hat dich Mama zu heiß gewaschen?“, wollte er wissen.
„Nein, nein. Deine werte Mutter hat mich stets in die Reinigung gegeben, um etwaige Schäden zu vermeiden. Ich bin zu 75% aus Seide, weißt du, und sehr pflegebedürftig.“
Herr von Schwarz plusterte sich auf. Sein oberster Knopf hing nur noch an einem einzelnen Faden. Paul zog die Decke wieder ein bisschen nach oben.
„Und was ist dann passiert?“, fragte er.
Das Jackett sank wieder in sich zusammen, und Herr von Schwarz seufzte: „Ich kam aus der Mode“.
„Was ist die Mode?“, fragte Paul.
„Die Mode, das ist heute hier und morgen dort, mein lieber Paul“, dozierte Herr von Schwarz, „Du verstehst?“.
Paul nickte, obwohl er nicht verstand. Aber Herr von Schwarz sollte sich nicht weiter ereifern:
„Als ich noch in Mode war…“
Er machte eine Kunstpause und rutschte dabei noch ein Stückchen nach vorne, der Hosensaum hing nun auf den Teppich.
„Als ich noch in Mode war, da gehörte ich der Welt. Dein Vater trug mich nur zu den schönsten Anlässen. An einem normalen Tag hätte er mich niemals mit ins Büro genommen, zu groß war die Gefahr, mich mit Kaffee oder den Blicken der Unwissenden zu kontaminieren. Ich war Abendgarderobe. Er führte mich auf Hochzeiten, Dinners und Empfänge. Und immer bekam ich Komplimente für meinen flotten Schnitt und den passgenauen Sitz. Einmal kleidete dein Vater sich in mich für ein Galadinner. Da gab es Röcke, mein lieber Paul, die kannst du dir nicht vorstellen“.
„Ich bin erst acht“, verteidigte sich Paul, doch Herr von Schwarz hörte ihn schon nicht mehr
„Watteau Plissee aus zartem Chiffon, Silhouetten junger Mädchen gehüllt in Ligne-corelle-Kleider aus fliederfarbenem Taft, daneben Volants in allen Regenbogenfarben! Hier und da schmiegten sich Frauenkörper in Mieder, und von oben betrachtet konnte man sich nicht sattsehen an dem prächtigen Bild, das die Ansammlung an Hüten darbot. Wie eine Wiese voller Blüten. Und die Hemden, die zu der Zeit, so angenehm unaufdringlich aus meinem Kragen hervor spitzten! Perlon, das sich an mich anpasste, als wäre es meine zweite Haut, in Farben, die perfekt mit meiner Schwärze harmonierten…“
Seine Stimme war immer leiser geworden, und doch meinte Paul, einen Nachhall des Wortes „Schwärze“ zu hören. Herr von Schwarz ließ den letzten Rest Luft aus dem Jackett und sackte zu einem Stoffhaufen zusammen.
Lange schwieg er und gerade als Paul etwas sagen wollte, hüstelte Herr von Schwarz, der Geruch von Mottenkugeln umgab ihn.
„Dann kamen die Blumenhemden“, flüsterte er und sein oberster Knopf erzitterte.
„Dein Vater hörte erst auf Krawatten zu tragen, wenn er abends ausging. Immer öfter lief er mit nachlässig geknöpftem Hemd herum. Und eines Tage…zog er mich ins Büro an“.
Herrn von Schwarz versagte die Stimme. Paul streckte seine Hand aus und legte sie auf das rechte Anzugknie. Sofort setzte sich Herr von Schwarz zurecht.
„Ein Büroanzug zu sein hat etwas so Ordinäres. Zwischen all den billigen Polyesterkostümen, den schweißfleckigen Vollzwirnverschnitten, ich! Ich war ein Ausgehstück, doch dein Vater trug mich als wäre ich von der Stange“.
Er verschränkte die Ärmel und sagte mit fester Stimme: „Schließlich trug er mich gar nicht mehr.“
Paul wartete noch eine Weile, besah sich Herr von Schwarz, wie er da schäbig vor ihm hing und fragte, damit Herr von Schwarz ihn nicht mit der Stille allein ließe.
„Seitdem hängst du da?“
Herr von Schwarz hob die Schultern etwas, schien nach dem letzten bisschen Kraft zu suchen und erklärte: „Dein Vater trug mich immer seltener. Ab und zu im Büro, später nur noch an Freitagen, mit grässlichen, klebrig-kratzigen Hemden. Eines Tages vergaß mich deine Mutter in der Reinigung, und ich wartete wochenlang im Fenster, die Sonne stach mir die Farbe aus dem Stoff. Irgendwann kam deine Mutter und erlöste mich aus meiner Gefangenschaft, nur um mich sogleich hinten in den Schrank zu hängen, nach hinten! Zu den unwürdigen Polohemden. Und schließlich holte dein Vater mich noch zwei, drei Mal zu Beerdigungen aus dem muffigen Kellerschrank, in dem ich und die Blusen deiner Mutter verenden mussten“.
„Diese Bluse da?“ Paul zeigte auf den Haken neben dem Kleiderschrank.
„Ja, diese Bluse da“, äffte Herr von Schwarz Paul nach.
„Ich verstehe nicht…Warum hängt ihr jetzt hier?“, wollte Paul wissen.
„Soll ich dich etwa anziehen?“
Herr von Schwarz schob seinen linken Ärmel auf Pauls Hand, die immer noch auf Herrn Schwarzens seidenem Knie lag.
„In all den Jahren bin ich doch immer sein Lieblingsanzug geblieben. Darum werde ich ihn auch noch auf seinem letzten Weg begleiten. Verzeih, es ist schon spät, und ich möchte morgen bei der Zeremonie so knitterfrei wie möglich auftreten, du verstehst?“
Er erhob sich und kletterte zurück auf den Kleiderhaken. Paul schaute noch etwas auf den ausgefransten Saum an den Ärmeln des Anzugs und schlief ein.
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