Der verdiente Literaturnobelpreis käme zu spät für Paul Auster
Rezension von Walther Stonet
Paul Auster, Baumgartner, Novel, Faber & Faber 2023/2024, ISBN/EAN: 9780571384952, Sprache: Englisch, Umfang: 208 S., Format (T/L/B): 1.4 x 19.9 x 13 cm, Einband: Paperback, ca. € 14,90 (TB), € 22,00 (geb.)
Paul Auster, Baumgartner, Roman, Rowohlt, Hamburg 2023, Rowohlt Buchverlag, 208 Seiten, ISBN: 978-3-498-00393-7, übersetzt von: Werner Schmitz, gebunden, € 22,00
Dass ich englische Literatur grundsätzlich im Original lese, hatte ich schon einmal erzählt. Das hindert nicht daran, auch für die deutsche Ausgabe zu werben, kann sie indes doch eines kaum: die wichtigen Erkenntnisse zu deutscher, europäischer und US-amerikanischer Geschichte seit dem späten 19. Jahrhundert nicht vermitteln. Wollen wir ein wenig präziser sein, nicht wahr, denn das wäre schon wichtig.
Der Blutsonntag von Stanislau, heute Iwano-Frankiswk, am12. Oktober 1941, kommt in diesem Buch fast irgendwie nebenbei zur Sprache. Nein, nicht nebenbei. Gar nicht nebenbei. Bevor ich es vergesse. Diese Stadt liegt in der West-Ukraine, gehörte zum früheren Galizien und war ab 1941 Teil des Generalgouvernements. Das war der Ersatzname für Polen – für all die, die wie wir alle eine Lektion in deutsch-jüdisch-europäischer-US-amerikanischer Geschichte brauchen. Der Roman Baumgartner hilft dazu. Weil er die Fakten personalisiert. Sie werden in ihm zu Fleisch und Blut.
An diesem 12. Oktober 1941 wurden mindestens 12.000 Männer, Frauen und Kinder in den Wäldern um die Stadt erschossen und in Gräbern verscharrt, die sie selbst gegraben hatten. Die anderen 28.000 kamen auf Hungermärschen und in KZs um. Darunter fast alle Mitglieder der jüdischen Familie Auster, die es – einigermaßen zahlreich – faktisch nur in Stanislau gab. Man stelle sich vor, Paul Austers Vater wäre nicht, wie so viele europäische Juden, bereits früher, vor den Weltkriegen, wegen der schlechten politischen und wirtschaftlichen Lage in die USA gegangen. Jetzt leben in Iwano-Frankiswk noch einige Handvoll Menschen jüdischen Glaubens. Und sie tun das unter dem Bomben- und Raketenhagel genau des Landes, das sie 1945 von den nazistischen Judenmördern aus Dunkeldeutschland befreite. Was für eine Volte der Geschichte.
Aber zurück zum Buch. Nein, es ist keine Autorbiografie, trägt aber Elemente davon in sich. Wie das fast alle Bücher dieses großen amerikanischen Ostküsten-Autors tun, der den Erfolg seines letzten Romans kaum mehr genießen konnte, weil ihn der Lungenkrebs besiegte. Nein, es ist nicht weinerlich geschrieben. Aber es, ja, es ist eine schrecklich-schöne Reflexion über das Alter, dessen zunehmende Einsamkeit, dessen nachlassende Gesundheit, dessen immer stärker überbordenden Schwelgens in Erinnerungen, dessen ganz profanen Folgen des immer stärker verschwindenden Kurzzeitgedächtnisses.
Und es ist nur scheinbar eine Aneinanderreihung von Geschichten und Geschichtchen, die vor uns einen Fleckerlteppich aus Lebensfetzen des Helden Baumgartner ausbreiten. Wie er zu dem wurde, was er war. Wie er seine Anna, seinen Lebensmenschen, freite, mit ihr lebte und wie sie ihm entrissen wurde und ihn mit sich selbst zurückließ. Wie es kam, dass seine Mutter, eine Auster, den verhinderten Intellektuellen Baumgartner senior, ältlicher Sohn eines aus Polen eingewanderten jüdischen Schneiders und Kleidungshändlers aus Newark, heiratete – oder er sie – und ihm den Protagonisten gebar, der dann das tun durfte, was ihm, dem Vater verwehrt war: aus dem Kleidergeschäft ausbrechen und zu dem werden, der er schließlich war, als es seinem Ende zuging.
Ja, dieses Buch ist nicht planlos geschrieben. Es ist eine letzte Geschichte über eine Welt, die zu Ende geht: in den USA, in Deutschland, in Osteuropa. Es ist das alte Europa, das vergeht. Nein, nicht der zweite Weltkrieg hat es beendet. Es beendet sich gerade selbst. Auch, weil es nichts aus seiner Geschichte lernen will.
Es ist ein letztes Aufrufen dessen, was für viele jüdische Menschen – und nicht nur für sie – ein Sehnsuchtsort war: The Land of the Free. Das Land der unendlichen Möglichkeiten. Es ist ein Abgesang auf jüdisch geprägte US-Ostküsten-Elite. Trump, ein Nachfahre eines deutschen Tunichtguts aus Kallstadt in der Pfalz, ist vielleicht ihr Menetekel, weil er das Schlechteste zuoberst kehrt, ganz wie alle Populisten und Autokraten es tun, weltweit, erfolgreich, zerstörerisch.
Eine weitere Besprechung von 4-3-2-1, Roman.