Durchschnittlich
Durchschnittlich
von Jane Darkness
„Ich hasse mich, und damit meine ich nicht nur, dass ich meine Brüste zu klein, meine Oberschenkel zu fett und meine Stimme zu tief finde, sondern dass ich schlichtweg nicht weiß, warum ich überhaupt auf dieser beschissenen Welt bin. Ich kann nichts, ich bin weder gut in der Schule noch habe ich irgendwelche Talente. Zusammengefasst bin ich eine Enttäuschung auf zwei Beinen, zwei fetten, unsportlichen Beinen, wenn man es genau nimmt. Meine beste Freundin hat auch nicht unbedingt die perfekte Figur, aber sie ist ein Genie. Sie spielt nahezu perfekt Saxophon in einem Orchester, hat schon diverse Wissenschaftswettbewerbe gewonnen, und alle Lehrer fragen sich, warum sie sich gerade mit mir abgibt, dem Loser, nein, sogar schlimmer als das, dem absolut langweiligen Durchschnittsmädchen.
Ich glaube, das ist das Schlimmste daran.
Ich bin nicht wirklich dumm, ich bin auch nicht wirklich untalentiert, ich bin durchschnittlich. In jeder Hinsicht. Nicht wirklich dünn, aber auch nicht dick, nicht klein, aber auch nicht groß, nicht super mies in der Schule, aber auch nicht herausragend gut. Ich bin das graue Mittelfeld, und ich hasse mich dafür. Ich bin weder in dem Bereich, in dem alle mir begeistert zujubeln, noch in dem, in dem sie mich einfach aufgeben, nein, ich bin in dem Zwischenbereich, in dem Menschen ständig etwas von mir wollen. Streng dich ein bisschen mehr an, nimm dir mehr Zeit zum Üben, du könntest so gut sein, beim nächsten Mal wird es besser.
Sie begreifen nicht, dass ich schon so viel tue, wie ich kann, dass in mir eben kein Genie steckt, dass sie mit genug Druck schon aus mir herausquetschen könnten. Sie zerdrücken mich mit all ihren Erwartungen und Hoffnungen, sodass ich nur noch einen einzigen, einfachen Wunsch habe: sterben. Das Ironische daran ist aber, dass ich selbst das nicht schaffe.
Denn ich bin weder so am Ende, dass mir alles egal ist, noch so ambitioniert, dass ich einen Plan austüftle und ihn dann in die Tat umsetze. Ich bin auch hier wie der Durchschnitt: lebensmüde, aber unfähig dem ein Ende zu setzen.
Es gibt nur eine einzige Sache, die mich von den Menschen um mich herum unterscheidet, nur ist das gleichzeitig auch die eine Sache, die ich niemandem erzählen kann, weil ich sonst vermutlich in irgendeiner Psychiatrie lande, und das, wie ich aus diversen Filmen und Büchern weiß, wäre das Ende jeder Hoffnung auf einen Freitod, falls ich doch irgendwann ein Maß an Verzweiflung erreiche, an dem ich die Hemmungen verliere.
Eine weitere Sache in meinem Leben die nicht normal und durchschnittlich ist, ist die Beziehung zu meinen Eltern, naja, oder genauer zu meiner Mutter.
Meine Beobachtungen haben ergeben, dass ich sie ganz furchtbar finden sollte, und sie dafür hassen, dass sie so streng ist, aber die größte Zeit über trifft das nicht zu. Sie ist die einzige Person, mit der ich reden kann, die wirklich alles über mich weiß und versucht, mir zu helfen und mir beizustehen.
Sie ist auch der Grund, der mich am Selbstmord hindert, im Prinzip lebe ich nur für sie.
Deshalb schwankt mein Lebenswille auch so heftig. Wenn sie mal wieder enttäuscht ist, und sagt, ich soll mehr tun, nicht sieht, was ich schon alles tue und sie mir das Gefühl gibt, der größte Versager unter dieser Sonne zu sein, dann male ich mir aus, wie es wäre, wenn sie mich tot in der Badewanne findet.
Da ich aber wie erwähnt zu feige und unfähig bin, das tatsächlich durchzuziehen, schreibe ich dann nur Abschiedsbriefe, in denen ich ihr sage, dass sie Schuld an meinem fiktiven Tod ist, weil sie mir das Gefühl gegeben hat, nicht gut genug zu sein. Obwohl ich ja weiß, dass es die Wahrheit ist.
Ich kann mir nicht vorstellen jemals volljährig zu sein, auch wenn mich nur noch anderthalb Jahre von meinem 18. Geburtstag trennen.
Die Vorstellung, Auto fahren zu dürfen, Alkohol zu kaufen oder nicht mehr zur Schule zu gehen, erscheint mir so unvorstellbar absurd, dass ich manchmal bestrebt bin, auf die Frage, was ich denn nach der Schule vor hätte mit so etwas wie „In Namibia Elefanten züchten.“ zu antworten, aber meistens sage ich einfach, dass ich Sozialarbeiter werden möchte, um Jugendlichen zu helfen, die sich so fühlen wie ich gerade. Okay, nein das sage ich nicht, aber soziale Arbeit finde ich schon sehr interessant.
Wenn ich so darüber nachdenke, bin ich vielleicht doch nicht so durchschnittlich, wie ich behauptet habe, denn ich hatte bis vor kurzem einen Freund, der 9 Jahre älter war als ich.
Es ist mir schon klar, solche Teenagerbeziehungen halten nicht ein ganzes Leben, aber irgendwie hatte ich das bei uns gedacht. Stattdessen war es dann nur ein Monat, und er hat es beendet, weil meine Eltern mir zu viele Grenzen setzen. Ich durfte nicht bei ihm übernachten oder auch nur mit ihm in seinem Auto mitfahren. Und da war ich tatsächlich kurz richtig wütend auf meine Mum.
Auf dem Stadtfest habe ich mich dann zulaufen lassen, weil er mich einfach stehen gelassen hat und mit dem Mädchen abgehauen ist, in das ich schon richtig lange verknallt bin. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was mich mehr stört, dass sie mit ihm Zeit verbringt oder dass er Zeit mit ihr verbringt. Jedenfalls hab ich dann vollkommen besoffen versucht, mich umzubringen, indem ich mit einer Nagelschere in meinem Arm herumgestochert habe. Hat natürlich nicht funktioniert, weil ich zu betrunken, die Schere viel zu stumpf und ich irgendwann einfach so müde war, dass es mir egal wurde. Wie gesagt, ich bin selbst zum Selbstmord irgendwie zu unfähig.
Dass ich das jetzt so nüchtern sagen kann, liegt daran, dass meine Verzweiflung ein Maß angenommen hat in dem ich vor Sarkasmus und Selbstverachtung nur so triefe. Ich habe mich damit abgefunden, dass ich einfach scheiße bin, weil mich Dinge überfordern, mit denen andere ganz problemlos umgehen können. Ich gehöre nicht auf diese Welt. Und mir bleibt nur die Hoffnung, dass ich irgendwann einen Weg finde sie zu verlassen.“
„Hast du das wirklich damals geschrieben?“ fragt mich das Mädchen mit den schulterlangen, braunen Haaren und der grünen Brille.
Ich nicke und bin selbst ein bisschen überrascht. Es ist schon Jahre her, seit ich zuletzt einen Blick in die Tagebücher aus meiner Jugend geworfen habe. Sie wirkt irgendwie nachdenklich und ich frage mich, was wohl gerade in ihr vorgeht.
„Es ist seltsam so etwas über seine eigene Mutter zu lesen, du bist erwachsen, du hast einen richtig guten Job, bist mit Papa und Lena zusammen und hast mich auf die Welt gebracht und mit großgezogen. Du wirkst immer so fröhlich, ich kann mir gar nicht vorstellen, dass du wirklich mal so traurig warst.“
Sie hat Recht, mit dem Teenager von damals habe ich heute wirklich nicht mehr viel gemeinsam.
„Dinge ändern sich, und genau deswegen habe ich dir das gerade gezeigt. Damals dachte ich, es würde niemals besser werden, und hätte mir jemand gesagt, dass ich in 30 Jahren hier sitzen würde, mit einer wunderbaren Tochter, einer Freundin und einem tollen Ehemann zusammenlebe, die ich alle drei so sehr liebe, hätte ich ihm das niemals geglaubt. Aber es ist ganz genau so gekommen. Ich wollte dir das eigentlich erst später zeigen, aber Lena hat gestern Abend in den alten Kartons gekramt und meinte, es hilft dir vielleicht zu verstehen, dass das Leben sich verändert, und selbst wenn schlimme Dinge passieren und einem das Leben ganz furchtbar ausweglos erscheint, das nicht das Ende ist.“
Nach einigen Minuten Stille kommt meine Tochter auf mich zu und nimmt mich in die Arme.
„Heute bist du überhaupt nicht mehr durchschnittlich.“
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