Kasperl Bumm und die Tugend der Genügsamkeit
Kasperl Bumm und die Tugend der Genügsamkeit
Essay von Franziska Bauer
Der liebe Gott, so es ihn gibt, vermeinte mich bei meiner Geburt mit einem gesunden Appetit segnen zu müssen, der mir leider bis heute erhalten geblieben ist, und dem Teufel, so es den auch geben sollte, war sofort klar, dass das ewig mein schwacher Punkt bleiben würde. Wie Recht Seneca hatte, wenn er sagte, der Gier sei nichts genug!
So erzählte mir meine Mutter beispielsweise, dass ich schon als noch nahezu zahnloses Krabbelkind bereitwillig diejenigen Marmeladebrote verspeiste, die die gleichaltrige Margit, eine notorisch schlechte Esserin, mir in der Sandkiste heimlich zusteckte. Ab dem Zeitpunkt, als Margits Mutter draufkam, in wessen Magen das tägliche für ihre Tochter vorgesehene Marmeladebrot landete, brachte sie vorsorglich gleich zwei Marmeladebrote zur Sandkiste mit – eins für mich und eins für Margit. (Die Fama schweigt sich allerdings darüber aus, ob ich nunmehr pro Tag zwei Marmeladebrote aß oder weiterhin nur eines.)
In der Hoffnung, meine Esslust und damit auch meine Entwicklung zum übergewichtigen Kind bremsen zu können, schenkten mir meine Eltern ein – wie sie meinten – didaktisch wertvolles Bilderbuch mit Versen von Fränzl Salm und Illustrationen von Ernst Kutzer, dessen Antiheld ein gewisser Kasperl Bumm war. Wie unschwer zu erraten ist, aß besagter Kasperl Bumm so oft, so viel und so maßlos, dass er dicker und dicker wurde, bis es ihn zu guter Letzt mit einem lauten Knall zerriss.
Ich verstand die Anspielung augenblicklich. Mir fuhr ein derartiger Schreck in meine kindlichen Knochen, dass ich ob des traurigen Geschicks des Kasperl Bumm in jähes Geheul ausbrach, bei dem die Tränen nur so spritzten. Meine Eltern hatten alle Hände voll zu tun, um mich zu beruhigen. Erst als sie mir versicherten, dass ich vom Zu-viel-Essen zwar dick werden, aber ganz gewiss nicht zerplatzen könne, hörte ich zu schluchzen auf. Das Schreckgespenst des Übergewichtes allerdings stand nunmehr greifbar im Raum. Ob das besagte Bilderbuch didaktisch wertvoll war, sei dahingestellt, denn dünner hat es mich nicht gemacht. Doch durch das Schockerlebnis, das es mir bereitete, war zumindest ein Problembewusstsein geschaffen: Maßlosigkeit bleibt niemals ohne Konsequenzen.
Jahre später traf ich als Studentin der Slawistik zwei literarische Brüder des Kasperl Bumm bei der Lektüre des 1965 veröffentlichten Science-Fiction-Romans von Arkadij und Boris Strugatskij „Der Montag fängt am Samstag an“ (russisch „Понедельник начинается в субботу“). In dieser fantastischen Satire ist der Forscher Vybegalo auf der Suche nach dem idealen, vollständig befriedigten Menschen. In der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse sieht er den Weg zur Entwicklung der Persönlichkeit und zu geistigem Wachstum. Sein erstes Modell eines derartigen Menschen füttert er vor versammelter Presse in der Hoffnung, dass der im dialektischen Materialismus postulierte qualitative Sprung erfolgen werde, wenn der Prototyp erst genügend im Magen habe. Das Experiment endet ohne qualitativen Sprung damit, dass es den unablässig fressenden Modellmenschen zerreißt und seine Eingeweide den Reportern um die Ohren fliegen. Vybegalo entwirft daraufhin ein mit magischen Kräften ausgestattetes Modell des Idealen Konsumenten. Dieser Ideale Konsument beschränkt sich nicht aufs Fressen, sondern versucht sofort, nachdem er zum Leben erwacht ist, sich alle materiellen Werte anzueignen. Als der Ideale Konsument gar darangeht, sich das gesamte Universum einzuverleiben, muss er mit einem Gegenzauber vernichtet werden, bevor er Allmacht erlangen kann.
Vybegalos magisches Modell des Idealen Konsumenten ist mehr als ein harmloser Kinderschreck. Sein Idealer Konsument ist ein ernstzunehmendes Menetekel. Er ist die Metapher für die Gefahr, in die unsere Maßlosigkeit den Planeten Erde mit allem, was darauf kreucht und fleucht, bringt, die Spezies Mensch eingeschlossen. In einem begrenzten Lebensraum kann Wachstum nicht grenzenlos sein und uneingeschränktes Konsumieren nicht ungestraft bleiben, denn unser Planet verfügt nur über begrenzte Ressourcen, die wir momentan nicht bloß nutzen, sondern schamlos ausbeuten.
Dabei müssten bei nachhaltigem Wirtschaften die Naturschätze unserer Mutter Erde durchaus genügen, um allen Menschen eine würdige Existenz zu bieten. Ohne gerechtes Teilen und faires Umverteilen wird das allerdings nicht zu bewerkstelligen sein. Wenn wir uns mit dem begnügen, was wir wirklich brauchen, ist für alle genug da. Das sei der Gier ins Stammbuch geschrieben, die ja oft der irrationalen Angst entstammt, nicht genug zu bekommen.
Zum Stichwort „teilen“: Zu meinen prägenden Kindheitserinnerungen zählt nicht nur der nimmersatte Kasperl Bumm, sondern auch die steinerne Statue des Heiligen Martin von Tours, deren ich im Alter von zehn Jahren erstmals im Eisenstädter Dom ansichtig wurde und die jetzt vor dem Pfarrzentrum steht. Die von Jakob Adlhart in Sandstein gemeißelte Figur zeigt den burgenländischen Landespatron im Bischofsornat, einen frierenden Bettler mit Krücke zu seinen Füßen.
Auf meine Nachfrage hin zeigten mir meine Eltern in einem Kunstbuch ein Bild von El Greco, das den Heiligen Martin als berittenen Soldaten zeigt, wie er seinen Soldatenmantel mit dem Schwert in zwei Teile schneidet, um ihn mit einem Bedürftigen zu teilen. Haut der einfach den Mantel in der Mitte auseinander und schenkt die Hälfte einem halbnackten Mann, damit dieser nicht erfriert! Dieses Beispiel der tätigen Nächstenliebe beeindruckte mich tief und nachhaltig und zeigte mir inmitten einer Welt der Entsolidarisierung und des Wegschauens einen alternativen, gnädigeren Lebensentwurf.
Wenn doch aber das Teilen nicht so schwer fiele und das Umverteilen leichter durchzusetzen wäre!
Dabei versteckt sich der Reichtum so geschickt vor dem Mangel, dass die Armen die Schuld für ihre Notlage bei den noch Ärmeren suchen und der Sozialhilfeempfänger dem Flüchtling und Asylwerber die geringen Geldzuwendungen neidet, die dieser erhält. „Kampf dem Sozialschmarotzertum“ – schreit die auf Gewinnmaximierung ausgerichtete neoliberale Gesellschaft, und die Wirtschaftskrise dauert an. Am lautesten schreit dabei der Rechtspopulismus und vernebelt den Bedürftigen dadurch den letzten Rest von Durchblick.
Dabei ist mittlerweile sogar dem Internationalen Währungsfonds klar, dass die Dinge offenbar anders liegen. Laut IWF sinkt das Wirtschaftswachstum, wenn die reichsten zwanzig Prozent noch reicher werden, und umgekehrt steigt es, wenn die unteren zwanzig Prozent mehr zur Verfügung haben. Der deutsche Kabarettist Chin Meyer, der in seinen Programmen und den im Berliner Kurier erscheinenden Kolumnen immer wieder Finanzen und Wirtschaft thematisiert, schließt daraus messerscharf, dass die echten Sozialschmarotzer, die vom Geld anderer Leute leben und das Wirtschaftswachstum behindern, die Millionäre seien!
Ja, die Millionäre. Wer hat, der hat. Der braucht nicht selbst zu arbeiten, der kann sein Geld arbeiten lassen. Arbeitsloses Einkommen nannte das der selbst in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Pierre-Joseph Proudhon. In seiner 1840 erschienenen Schrift über das Eigentum formulierte er provokant den allseits bekannten Satz „Eigentum ist Diebstahl“. Gemeint war damit Einkommen aus Zins und Pacht – heute würden noch Spekulationsgeschäfte mit Aktien und Derivaten dazukommen.
Aristoteles nannte diese Art von wundersamer Geldvermehrung schlichtweg Wucher: „So ist der Wucher hassenswert, weil er aus dem Geld selbst den Erwerb zieht und nicht aus dem, wofür das Geld da ist. Denn das Geld ist um des Tausches willen erfunden worden, durch den Zins vermehrt es sich dagegen durch sich selbst. Diese Art des Gelderwerbs ist also am meisten gegen die Natur.“ Zurück zu Proudhon: Seiner Meinung nach würde die Abschaffung des arbeitslosen Einkommens mehr Chancengleichheit bringen und helfen, soziale Ungerechtigkeit weitgehend zu beseitigen. Wobei es schon ein maßgeblicher Etappensieg wäre, wenn arbeitsloses Einkommen nicht abgeschafft, sondern lediglich gebührend besteuert würde …
Während im Portemonnaie des kleinen Mannes das Geld merklich weniger wird, erleben wir die wundersame Geldvermehrung weltweit, ohne dass sie uns wirklich aus der Krise hilft. Oder sollte sie etwa der Grund dafür sein, dass wir so tief in der Krise stecken?
Angeblich hat sich in den vergangenen dreißig Jahren die globale Wirtschaftsleistung versechsfacht, die in Umlauf befindliche globale Geldmenge aber verzehnfacht. Alte Schulden werden von neuen abgelöst, der Schuldenberg wächst ins Unermessliche. Renommierte Bankhäuser schlittern in die Pleite und sollen mit Steuergeldern saniert werden. Liegt die Rettung im Vollgeldsystem, in dem alle Kredite durch vorhandene Sparguthaben gedeckt sein müssten? Laut dem deutschen Wirtschaftssoziologen Joseph Huber brauchen Banken momentan nur etwa drei Euro Zentralbankgeld, um 100 Euro Giralgeld zu schöpfen, im Vollgeldsystem müssten es 100 Euro Zentralbankgeld pro 100 Euro Giralgeld sein. Mit dem Vollgeldsystem hätten die Notenbanken also die totale Kontrolle über die Geldschöpfung.
Island und die Schweiz überlegen zur Zeit ernsthaft die Einführung des Vollgeldsystems, ja selbst die Ökonomen Jaromir Benes und Michael Kumhof vom Internationalen Währungsfonds sehen im Vollgeld einen vielversprechenden Weg. Ganz neu wäre die Idee ja nicht: Irving Fisher postulierte nach dem Börsenkrach von 1929 und der darauffolgenden Weltwirtschaftskrise ein Vollreserve-System, bei dem sämtliche Kredite, die von Banken vergeben werden, zu hundert Prozent mit Spareinlagen oder Zentralbankgeld gedeckt werden müssen, und nannte es „100% money“. Manche liebäugeln auch unbelehrbar mit der Rückkehr zum Goldstandard, der jedoch laut Expertenmeinung die Liquidität der Zentralbanken zu sehr einschränken würde. Offenbar will der Umgang mit Geld eben gelernt sein, und das gilt sowohl für den unbedarften kleinen Mann als auch für Experten und Finanzgranden. Nur: Manche lernen ’s nie.
Doch nun von den zum gordischen Knoten verflochtenen Fragen rund ums Geld noch einmal zurück zum Phänomen der materiellen Gier. Der große Schriftsteller und Moralist Tolstoj hat 1885 eine Erzählung mit dem Titel „Wieviel Erde braucht der Mensch“ (russisch: Много ли человеку земли нужно?) geschrieben, die man durchaus als programmatisch bezeichnen kann. Darin geht es um den Bauern Pachom, der sehr stolz und glücklich ist, als es ihm gelingt, sein erstes Stück Land zu kaufen. Das weckt aber erst recht seine Besitzgier. Von einem durchreisenden Kaufmann erhält er den Rat, billiges Steppenland bei den Baschkiren zu erwerben. Pachom reist mit seinem Knecht fünfhundert Werst gen Osten und handelt mit den Baschkiren aus, dass er um tausend Rubel so viel Land kaufen kann, als er von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang in einer großen Runde abzuschreiten vermag. Wenn er vor Einbruch der Finsternis den Ausgangspunkt nicht erreicht, verfällt die Summe allerdings. Pachom überschätzt sich und wählt in seiner Gier einen zu weitgezogenen Bogen. Um den Kreis vor Sonnenuntergang zu schließen, muss er das letzte Stück laufen. Mit letzter Kraft am Ziel angelangt, stirbt er vor Überanstrengung.
Tolstoj lässt die Erzählung mit folgenden Worten enden: „Der Knecht nahm die Hacke, grub Pachom ein Grab, genau so lang wie das Stück Erde, das er mit seinem Körper, von den Füßen bis zum Kopf, bedeckte – sechs Ellen –, und scharrte ihn ein.“ Erst der Tod hat Pachoms Gier nach Land und Eigentum auf das gebührende Maß zurechtgestutzt. Die Lektion, die Pachom zu Lebzeiten nicht erfasste, hat ihm der Tod mit gnadenloser Konsequenz eingebläut, leider zu spät, als dass er etwas daraus hätte lernen können. Wohl aber kann und sollte Tolstojs gleichnishafte Erzählung uns als Warnung dienen.
Der Tatsache, dass wir alle dem Tod als letzter Wahrheit entgegenzusehen haben, sollten wir Zeit unseres Lebens eingedenk sein, wenn wir wollen, dass unser Dasein einigermaßen glückt. Ein erfülltes, geglücktes Leben braucht kein Übermaß an materiellen Gütern, und ein sinnvolles Leben hat per se keinen Raum für Gier und Maßlosigkeit. Der Glücksforscher Martin Seligman, Psychologie-Professor an der University of Pennsylvania, schreibt übertriebenem Materialismus sogar ein glückszerstörendes Element zu: Wer Geld für wichtiger hält als alles andere, ist mit seinem Einkommen und Leben selbst dann nicht zufrieden, wenn er schon mehr als genug hat.
Vieles von dem, was ein erfülltes, glückliches Leben ausmacht, kann man mit Geld nicht kaufen: Den Respekt und die Bewunderung der Mitmenschen beispielsweise, das Ausleben der eigenen Talente in einer erfüllenden Aufgabe, oder Konsequenz und Durchhaltevermögen beim Erreichen persönlicher Ziele. Im Umkehrschluss drängt sich mir der Verdacht auf, dass ein Gutteil der Finanzkrise durch den fehlenden Sinn im Leben der Big Global Players bedingt ist. Dabei scheint das Spekulationsrisiko oft denjenigen Nervenkitzel zu bieten, der das Spiel mit dem Geld erst richtig reizvoll macht. Die Spannung der Ungewissheit gepaart mit der reflexartigen Lust auf mehr bewirkt laut der Psychologin Barbara Mellers von der University of California in Berkeley in weiterer Folge eine Art Suchtverhalten und eine nicht zu befriedigende Gier. Mit den Worten Arthur Schopenhauers: „Das Geld gleicht dem Seewasser. Je mehr davon getrunken wird, desto durstiger wird man.“ Das wäre ein halbwegs schlüssiger Erklärungsversuch der für mich an Irrationalität grenzenden bedingungslosen Jagd nach dem großen Geld, das nicht notwendigerweise zum großen Glück führt.
Wie also findet der Mensch den Weg zum Glück? Auf der Suche nach dem idealen, vollständig befriedigten und somit glücklichen Menschen unterläuft Professor Vybegalo ein Denkfehler, wenn er in der Befriedigung der materiellen Bedürfnisse den automatischen Garanten zur Entwicklung der Persönlichkeit und zu geistigem Wachstum sieht. Dazu gehört nämlich auch ehrliches Bemühen und die richtige innere Einstellung des Glückssuchenden. Schon Epikur erkannte, dass der Schlüssel zu einem Leben in Ruhe und Zufriedenheit im maßvollen Genuss besteht. Im Maßhalten liegt die wahre Lebenskunst, die freilich erst gelernt werden muss, und in der Genügsamkeit besteht die Kardinaltugend einer Kultur des menschlichen Zusammenlebens, das die Kluft zwischen Arm und Reich überbrücken will.
Man muss wissen, wann man genug hat, oder vielmehr, wann man genug zu haben hat. Wer das nicht weiß, täte gut daran, es schleunigst zu lernen. Sonst geht es der betreffenden Person wie Fränzl Salms Kasperl Bumm und wie Professor Vybegalos explodierenden Glücksmodellen. Und die Trümmer, die uns um die Ohren fliegen, gefährden uns alle.
29.06.2015
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