Sammy

Sammy

 von Luitgard Hefter

Der dunkle Lebensmittelladen sah immer noch aus wie früher. Hanna stieß Marli mit dem Ellenbogen an und deutete auf das Zeitungsregal.

„Die Oberbayerische Kirchenzeitung direkt neben den St.-Pauli-Nachrichten. Mein Onkel hat sie immer gelesen, wenn er auf dem Küchensofa lag.“
„Du meinst die Kirchenzeitung, oder?“
„Nein. Er ließ die Tittenbilder immer offen herumliegen.“

Hanna zeigte auf die düstere Ecke mit dem Stehausschank.
„Da haben die Männer morgens schon Obstler getrunken und alle Frauen angemacht, die in den Laden kamen. Und das da hinten ist der Herr Prachtl“, flüsterte sie und wies mit dem Kopf in Richtung eines alten Mannes in kniefreien Lederhosen.

Der Ladenbesitzer sah hoch und kam hinter dem Tresen hervor.
„Dich hab ich ja lang nimmer g’sehn. Gehst‘ noch mit dei‘m Neger?“
„Was meint er damit?“
Marli baute sich vor Hanna auf, die hinter einem Regal verschwunden war und jetzt Weichspüler aufschraubte.
„Sommerwiese find ich am besten, riech mal.“
Marli zog Hanna zum Stehausschank und rief: „Zwei Obstler bitte!“
„Spinnst du, ich will das nicht.“

„Ich lerne dein bayerisches Dorf kennen, wir haben was zu feiern.“
Marli stützte die Ellenbogen auf den Schanktisch und sagte: „Dann erzähl mal.“
„Das mit Sammy ist lange her, ich war noch in der Schule. Meine Schwester Toni wurde damals im Dorf als Kommunistenzuchtl bezeichnet…“
„Netter Versuch. Sammy?“
„Ich fand die Burschen in meinem Alter völlig abstoßend. Wie und was sie redeten… Sammy war anders. Und er wohnte in der Stadt! Wir haben uns in einer Disco kennengelernt. Er sprach englisch, und du weißt, ich liebe Englisch. Jedenfalls ging es Sammy nicht um Englisch-Konversation. Auf der Tanzfläche küsste er mich, und ich sah, dass meine Freundin auch gerade mit einem Kerl knutschte, also hab ich es zugelassen. Sein Kuss fühlte sich gemütlich an, und seine Hände hielten mich auf angenehme Art fest.“
„Gemütlich?“
„Ich kann es nicht anders beschreiben. Ich fühlte mich auf eine Art geborgen, wie ich es bisher nie gefühlt hatte. Jedenfalls schrieben wir uns danach eine Zeitlang englische Briefe, in denen ich alles aufbot, um mein Vokabular und meinen Verstand vorzuführen. Er schrieb von seiner Arbeit in der Fabrik und dass er in mich verliebt sei.“
„Hat dich das angetörnt?“
„Nein, überhaupt nicht. Ich habe es irgendwie überlesen, es war mir unangenehm. Ich war 17, wollte Abitur machen und hab irrsinnig gern Englisch geredet. Und eines Tages hab ich ihn dann in seiner Dachkammer in der Stadt besucht.“
„Und da habt ihr auf Englisch philosophiert.“
„Er machte die Tür im Bademantel auf. Ich dachte, ich bin zu früh, und wollte wieder umkehren. Da zog er mich ins Zimmer und ließ seinen Bademantel fallen. Ich hab mich bemüht, ihm ins Gesicht zu sehen. Und dann haben wir miteinander gepennt.“

Hanna nahm einen Schluck Obstler.
„Wow.“
„Es war seltsam. Von seinen Liebesschwüren fühlte ich mich völlig überrumpelt. Aber ich dachte, wird ja Zeit, dass ich mal Sex habe. Ich mochte es total gern, hinterher an ihn geschmiegt dazuliegen. Ich fühlte mich ein paar Minuten lang geborgen und gleichzeitig großartig erwachsen. Ich habe ihn dann öfter in seiner Dachkammer besucht. Seine Zimmerwirtin hat mich einmal gefragt, wie ich mich nur so ‚wegwerfen‘ könne. Aber sie hat mir immer die Tür aufgemacht.“
„Hast du nichts erwidert?“
„Nein. Ich wusste nicht, was. Ich war auf Deutsch viel schüchterner als auf Englisch.“

Hanna blickte nachdenklich auf die Schnapsgläser.
„Meiner Mutter hatte ich irgendwann erzählt, dass ich einen Afrikaner kennengelernt hätte und dass wir uns auf Englisch schrieben. Ich erwähnte, dass er aus Biafra kam, denn jeder brave Kirchgänger hatte damals noch die Bilder von den hungrigen Kriegskindern vor Augen. Das wirkte auch bei meiner Mutter, sie sagte nichts. Eines Tages traf eine Postkarte von Sammy ein. Ich hatte Angst, dass sie voller Fehler war und schämte mich schon im Voraus. Mutter las die Karte gleich im Flur laut der Oma vor. Sammy stellte sich mit ein paar sehr höflichen Sätzen vor und erkundigte sich nach dem Wohlergehen meiner Mutter, meiner Oma und meiner Schwestern. Dann las Mutter weiter: ‚Machen Sie sich keine Sorgen’… Sie geriet ins Stocken und hörte auf. Ich bekam Panik und rannte die Treppe hoch, musste aber die Situation kontrollieren und lehnte mich übers Treppengeländer und horchte. Natürlich interessierte sich Oma dafür, was Mutter verschweigen wollte. Ich hörte ein Gerangel und dann Omas herrischen, schlesischen Tonfall: ‚Nu, wischte wohl die Karte hergeben, Mädel!‘ Dann herrschte Stille.“
Hanna machte eine Kunstpause.

„Sag schon, wie hieß der Satz?“
„‘Ich verspreche Ihnen, dass ich Ihre Tochter nicht schwanger machen werde.‘“
„Wow.“
„Mir wurde fast schwarz vor Augen, ich hielt mich am Geländer fest und wartete auf den Weltuntergang. Oma las den Satz leise, und dann kam die typische Reaktion von Amtsgerichtsratswitwe Dr. Hildegard Hagen.“
Hannas Gesicht verfinsterte sich.
„‚Oh jedednee, hoffentlich hat das nicht der Postbote gelesen.‘“
„Klare Prioritäten bei Frau Doktor.“
„Mutter kam dann in mein Zimmer, und ich hab ihr sofort gesagt, dass ich die Pille nehme. Den Schock in ihrem Gesicht, dass ihre Tochter Sex hatte, hab ich irgendwie genossen. Gleichzeitig war sie erleichtert, dass ich kein uneheliches, dunkelhäutiges Kind zur Welt bringen würde. Sammy war übrigens schon 24, er kam mir uralt vor. Er hatte tatsächlich im Biafra-Krieg gekämpft, sein Freund war neben ihm von einer Granate getötet worden. Er erzählte mir das, aber ich konnte nichts damit anfangen. Ich sah nur einen arglosen Menschen, der gern im Mittelpunkt stand. Er feierte oft mit seinen Kollegen, und die brachten ihm dämliche Sprüche bei, genau das Zeug, das ich bei den Dorfjungs so hasste. Jedenfalls hatte Sammy begonnen, mich sonntags zu besuchen. Beim ersten Mal holte ich ihn von der Bushaltestelle ab. Ich drehte mich weg, als er mich mit einem Kuss begrüßen wollte.“
„Feigling“, sagte Marli und rief: „Noch zwei Obstler bitte.“
„Eines Sonntags feierte meine Schwester Toni ihren Geburtstag. Sie war inzwischen Feministin und hatte nur Freundinnen eingeladen. Ich hatte Sammy abgesagt, aber er kam trotzdem. Er gratulierte Toni und war schnell in ein Gespräch verwickelt. Ich hörte nur, wie schlecht seine Grammatik war, wie falsch er die Wörter aussprach, und lief immer wieder aus dem Zimmer, weil ich es nicht aushielt, wie unbekümmert er sich unterhielt. Dann sollte auf das Geburtstagskind angestoßen werden und ich hörte, wie Sammy das Wort ergriff. Alle hielten ihr Glas in der Hand, und er rief: ‚Jetzt stellt euch alle mal in einen Kreis.‘ Mein einziger Gedanke war: ‚Lieber Gott, bitte mach, dass jetzt nichts Peinliches kommt.‘ Aber ich hatte so wenig Hoffnung, dass ich schnell mein Glas abstellte und in die Küche floh. Von der Küchentür aus musste ich aber überwachen, wie schlimm die Situation war. Tonis Freundinnen waren Sammys Aufforderung höflich gefolgt. Dann sah ich ihn sein Glas hochheben und hörte ihn rufen: ‚Und jetzt alle mitmachen: Zur Mitte, zur Titte, zum Sack, zack, zack …  vom Boden zum Hoden, BRUST.’“
„Ein Freudenfest für Feministinnen“, lachte Marli.

Herr Prachtl kam und stellte zwei weitere Stamperl vor die Frauen.
„Dürft‘s es des überhaupt?“ fragte er.
Marli hob ihr Stamperl hoch, nickte Herrn Prachtl zu und rief: „Zur Mitte, zur Titte…“ und mit einem Blick zu Hanna: „Wie ging‘s weiter?“
„Hör auf“, zischte Hanna und schlug Marli auf den ausgestreckten Arm. „Du bist ja betrunken.“
„Auf dich und Sammy. Brust.“
„Ich find dich unmöglich.“
„Zack, zack, erzähl weiter, oder ich fange an, hier im Laden zu randalieren.“
Hanna stöhnte.

„Sammy war katholisch wie wir und sehr gläubig. Eines Sonntags war Sammy nicht zum Mittagessen erschienen, und Mutter wollte, dass Toni und ich in die Nachmittagsandacht mitgingen. Der Pfarrer saß noch im Beichtstuhl, und davor befand sich eine kleine Schlange von Kirchgängern, die ihre Sünden loswerden wollten. Ich suchte mir einen Platz auf der Frauenseite und las notgedrungen im Gebetbuch. Plötzlich war ein Raunen zu hören. Ich drehte mich um und dachte, ich hab eine Halluzination, denn da stand auf einmal Sammy in der Schlange vor dem Beichtstuhl. Wie konnte er es wagen, in meinem Dorf beichten zu gehen?‘
„Weil er den Sex mit dir beichtet? Es gibt doch ein Beichtgeheimnis.“
„Ja, aber die Leute spekulieren doch. Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Wie verhalte ich mich, wenn wir nach der Andacht wie immer an Papas Grab stehen? Wie kann ich der Ratschkatl am Nachbargrab weismachen, es liefe nichts zwischen Sammy und mir? Vor lauter Stress fing ich an zu beten: Bitte, lieber Gott, mach, dass niemand Sammys Beichte mit mir in Zusammenhang bringt! Mein Gehirn ratterte, und dann nahm Sammy im Beichtstuhl Platz und kurz darauf war hinten in der Kirche ein Krachen zu hören.“
„Was ist passiert?“
„Ich sah meine Schwester aufspringen und nach hinten zu den Erwachsenen laufen. Und da… lag meine Mutter… ohnmächtig in der Kirchenbank, und alle wussten warum.“
Marli lachte lauthals.
„Kurz darauf hab ich mich von ihm getrennt. Ich wollte studieren und frei sein.“
Marli hob ihr Glas.

„Und das bist du ja geworden. Frei von allen Zwängen des Dorfes und der Vergangenheit! Darauf trinke ich! Noch zwei Obstler bitte.“
„Hör auf, die Leute gucken schon.“
Hanna legte einen Geldschein auf den Ausschanktisch.
„Wir wollen zahlen!“
„Wie geht’s der Mama?“, fragte Herr Prachtl.
Hanna zog Marli am Ärmel und sagte im Weggehen: „Danke gut.“
Nach ein paar Schritten blieb Marli stehen, drehte sich um und rief: „Was ich noch sagen wollte, Herr Prachtl…“
Der alte Mann und seine Kunden blickten verdutzt zu ihr. Marli zeigte auf Hanna.

„Die Hanna… geht jetzt übrigens mit einer Frau.“

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