Flucht – Nur Instinkt oder mehr?
von Juliane Ninstel
Flucht … ein Angstgefühl, ein Selbsterhaltungstrieb und ein Selbstschutz der aktiviert wird, wenn unser Körper oder unser Geist Gefahr wahrnimmt. Heutzutage ist Flucht leider nichts Seltenes mehr. In Ländern mit Wohlstand fliehen die Menschen vor alltäglichen Dingen: vor Tadeln von Eltern, vor Schulaufgaben und Hausarbeiten.
Doch traurigerweise hat das Wort Flucht im Großteil unserer Welt ein anders Gesicht. Wir in den Industrieländern können uns zwar noch in unserer wohligen Sicherheit wiegen, aber in vielen Ländern ist Sicherheit nur noch eine Illusion, ein Andenken an vergangene Tage, die ohne jede Vorwarnung einfach geendet haben.
Dort gibt es Flucht. Flucht vor dem unausweichlichen Tod, vor Bomben, vor Hunger und Durst, vor Gefangenschaft, Sklaverei, Zwangsheirat und Unterdrückung. Vor allem, was einen menschlichen Verstand in die Knie zwingt. Vor all der Ungerechtigkeit, die unvermittelt zuschlägt, ohne Rücksicht auf Verluste. Aus all diesen Gründen sind Menschen auf der Flucht. Eine Flucht, die ins Ungewisse führt. Eine Flucht, die nicht immer garantiert, dass man am Ende gerettet ist.
Doch egal wie oft wir es leugnen, tief in uns wissen wir alle, dass diese Tatsachen nicht zu ändern sind. Es wird immer Fluchten geben, immer Leid und Angst. Eine Welt, die frei von allem Schlechten ist, gibt es nur in der Fantasie. Und so fliehe auch ich, mein Gegenüber oder mein Nachbar. Wir fliehen vor all der Einseitigkeit. Vor dem Status quo, der uns in Kästen zwängt und vor der Furcht, ein Leben lang nur normal zu sein, dem Durchschnitt anzugehören. Verdammt dazu, auf ewig nur genügend zu leisten. Nicht mehr und nicht weniger.
Doch wohin sollen wir gehen? Wird ein Heim zerstört, dann sucht man ein Dach über dem Kopf. Wird einem der Frieden genommen, sucht man nach Sicherheit, aber wonach suchen wir? Wir Menschen, deren Inneres nach mehr strebt, als nur gewöhnlich zu sein. Wohin fliehen wir, wenn wir wieder drohen in Selbstmitleid zu ertrinken? Was können wir tun, wenn die erdrückenden Erwartungen an uns zu schwer werden? Was bleibt uns denn? Einfach aufhören zu leben, weil unser Leben nicht genug ist?
Nein, denn wenn wir nicht genug haben, nicht genug in unserer Existenz erkennen, dann gibt es nur eine Option, die wir ergreifen: wir fliehen. Wir tauchen im World Wide Web unter. Suchen in sogenannten Online Rollenspielen und Tausenden von Serien und Filmen nach einem Kick, nach Abenteuern, die uns Adrenalin durch die Adern jagen und uns das Gefühl geben, besonders zu sein.
Manche versuchen ihren Drang nach mehr mit Berühmtheit auszugleichen. Also nutzen sie YouTube oder gestalten ihre eignen Websites, schreiben in ihrem Block über alles, was sie den lieben langen Tag tun, Hauptsache, den Leuten gefällt’s.
Ich streite nicht ab, dass es auch Menschen gibt, die das aus Geldgier oder einfach aus Langeweile machen. Allerding fragt euch selbst, ob dahinter nicht schlussendlich doch irgendwo das Bedürfnis nach Außergewöhnlichkeit steckt. Es gibt unzählige Wege, die wir uns graben, um den einen zu finden, der uns rettet. Videospiele, YouTube, Instagram, Facebook, all diese Dinge benutzen wir tagtäglich und sind uns gar nicht bewusst, warum wir so fixiert darauf sind. Es sind unsere ‚Exit‘-Türen im gradlinigen Leben, das die Norm darstellt, und sie alle haben zwei Faktoren, die sie besonders attraktiv machen. Erstens: Sie machen Spaß, unterhalten uns. Zweites: Sie sind Auswege. Flüchtige Träume nach Ruhm.
Wir denken unbewusst: „Wenn er oder sie das kann, dann kann ich das auch!“
Nichtsdestotrotz schaffen es nur ein paar wenige Auserwählte, wirklich als erfolgreich zu gelten. Der Rest wird nämlich eine herbe Enttäuschung erleben. Also doch alles nur Quatsch? Gibt es keinen Ausweg? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.
Auf diese Frage habe auch ich keine Antwort gefunden, denn ich bin nur ein Mensch. Selbst wenn ich hier so große Reden schwinge, bin ich nur ein Flüchtling. Nur ein Individuum, das nach Ruhm strebt, wie alle anderen. Ich habe den Drang nach Besonderheit mein Leben lang ertragen. Er ist mit mir aufgewachsen, hat mich geprägt.
Ich kann nur bestätigen, dass dieser Trieb, dieses Verlangen oft unbändig stark werden kann. Es ist mir schleierhaft, ob dieses Streben nach mehr irgendwann von selbst verschwindet, aber ich denke, es wird im Alter weniger werden und nach und nach gänzlich verschwinden. Denn wenn man am Ende auf sein Leben zurück schaut und vielleicht weder Ruhm noch seine größten Träume verwirklichen konnte, so würde man doch feststellen, dass es genug ist.
Ich zitiere aus dem Vortrag „Gibt es eine Spiritualität im Leiden? Der Glaube als Hilfe bei der Bewältigung von Verlusten?“ von Prof. Dr. Fulbert Steffensky (S.14).
„Vieles ist zerbrochen von dem, was wir hatten. Vieles haben wir nur halb gehabt und gemacht. Aber wir hatten wenigstens die Hälfte. Wer sagt denn, dass die Süße nur in der Ganzheit liegt? (…) Es gibt ein englisches Kinderlied, das uns beschreibt:
Half way up the stairs
is the stair, where I sit!
There isn`t any other stair
quite like it.
It isn`t at the bottom.
It isn`t at the top.
Half way up the stairs
is the stair
where I always stop.“
Übersetzt heißt das:
Auf halber Treppe
Ist die Stufe, auf der ich sitze!
Es gibt keine vergleichbare wie diese.
Sie ist nicht oben.
Sie ist nicht unten.
Auf halber Treppe ist die Stufe,
auf der ich immer innehalte.
Ich denke, das Lied und Fulbert Steffenskys Worte beschreiben passend, wie wir unser Leben auf dieser Erde verbringen. Wir sind alle, auf welche Weise auch immer, Flüchtlinge, und, wenn wir nicht vor äußeren Auswirkungen flüchten, dann tun wir das, vor den inneren. Vor unseren Ängsten und Dämonen. Wir leben also immer nach mehr strebend, fürchten beim Treppensteigen unzählige Faktoren und erreichen vielleicht dennoch nur die halbe Treppe, bleiben mitten auf ihr stehen und merken, dass unser Leben schon vorbei ist.
Wir sind hoffende Wesen. Voller Wünsche und Ideale. Wir sind schwache Wesen voller Furcht und Selbstsüchtigkeit. Wir sind angsterfüllt, wie Kinder, die die Dunkelheit fürchten und doch, trotz all dem, sind wir menschlich. Flucht ist menschlich. Es ist ein Instinkt. Eine Reaktion unseres Gehirns auf Angst oder Gefahr. Ein Ausweg, der gesucht wird.
Flucht ist das Leben, das wir leben. Sie lenkt unser Handeln und beeinflusst, was wir sind. Wenn man sie im Hinblick auf ein ganzes Leben betrachtet, dann wird einem auffallen, dass sie viele Gesichter hat, genau wie wir selbst. Wir rennen die Treppe hinauf, schauen uns ständig um, fürchten zu fallen, doch wenn wir dann wissen, dass es zu Ende ist, dann sind wir ängstlichen Fluchttiere zu Recht stolz auf unseren Weg.
Denn wir haben gelebt, so gut wir konnten. Wir haben die flüchtigen Momente genossen und die schönen in Erinnerung bewahrt, die schweren haben wir trotzig überstanden, und unsere Träume haben wir geliebt – ob sie erfüllt wurden oder nicht.
Das Leben liebend, so sind wir, wir Überlebenskünstler.
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