Kamelion
Kamelion
von Lydia Skupin
‚Luser. Coole. Langweiler. Auslender. Assis. Linke. Faschos. Sträber.‘
Die konnte ich alle auf den ersten Blick erkennen, als ich auf den Hof der neuen Schule schlenderte. So gelassen wie möglich. Meine Hände in den Hosentaschen. Es war wie in jeder Schule davor. Wieder musste ich mich überraschen lassen, in welcher Clique ich landen würde.
Die ‚Luser‘ lagen nahe. Auf jeden Fall dann, wenn die Falschen rausfinden würden, dass ich zum Förder gehe. Der soll hier angeblich so toll sein, dass ich deshalb wieder die Schule wechseln musste. ‚Danke, Mutter.‘
Die ‚Sträber‘ fielen bei meinen Noten sowieso aus.
Mit meinem Hauch von nichtdeutschem Aussehen sollte ich mich für die Faschos möglichst unsichtbar machen. Deshalb nicht zu den ‚Auslendern‘. Auch nicht zu den Linken. Und auch nicht zu den Assis.
Letztes Mal war ich doch tatsächlich bei den Coolen gelandet. Ich trug Markenklamotten. Und trainierte meine Oberarme. An den Füßen weiße Sneakers. Ich sagte nicht viel, aber wenn ich was sagte, dann achtete ich darauf, dass es witzig war. Oder genau das, was die anderen hören wollten. Ich schien neuerdings gut anzukommen. Bei den Jungs. Und sogar bei den Mädchen. Das war beruhigend. Trotzdem wünschte ich mich wieder zu den Langweilern zurück. Es ist anstrengend, cooler zu sein als die anderen. Und als Förder ist es ein Kunststück.
Auch hier lehnte ich also in den ersten Tagen in jeder Pause an einer der grauen Hauswände. Achtete darauf, dass der Putz keine Spuren auf meinen Klamotten hinterließ. Beobachtete, wie sich die Ansammlungen im Hof fein säuberlich sortierten. Und erwartete keine Überraschung. Und da war sie. Sie stand mal bei den einen, mal bei den anderen. Und sah jeden Tag anders aus. Anders schön.
Ich taufte sie ‚Kamelion‘. ‚Große Glubbschaugen. Aufmergsam. Bunt. Mal dunkel. Mal hell. Blitsschnell.‘
Es wurde bald kompliziert, sie mit den Augen zu verfolgen. Ich war bei den Coolen gelandet. Meine suchenden, aufgeregten Blicke konnten leicht verraten, dass sie sich in mir getäuscht hatten.
Nur eine Frage der Zeit, bis Kamelion bei uns auftauchen würde. Und dann müsste ich abwarten, wie die Coolen auf sie reagieren. Man konnte aus einer Clique schließlich so schnell wieder raus sein, wie man reingekommen war.
Ruckartig. Im Zickzack. So kam sie auf uns zu. Ein Blatt Papier flatterte in ihren Händen. Die Coolen grinsten in sich hinein. Ein bisschen mitleidig vielleicht. Aber kein Spruch. Kein Gelächter. Sie wedelte mit einer Liste vor unseren Augen herum. Die Coolen richteten erwartungsvolle Blicke auf sie. Ich presste meine Lippen aufeinander. Und spürte einen Schlag auf meinem Oberarm. Mein Körper spannte sich an. Ihre Faust war so schnell wieder verschwunden, wie sie sich davor in meinen Arm gebohrt hatte. Die Spannung in meinem Körper blieb. Und die Überraschung öffnete meinen Mund. Es kam nichts heraus. Kamelions Lippen bewegten sich. Sie schnappte kurz nach Luft. Und dann: „Du bist neu? Aus der Neunten? Ein Förder?“
Ich stellte mir vor, sie zu küssen. Ihr die Luft zu nehmen. Spürte, wie mein Mund zitterte.
„Emil?“
Ihre etwas zu schrille Stimme. Jetzt kam der Inhalt ihrer Worte bei mir an. Ich hörte die unzähligen Fragezeichen dahinter. Und ihr unüberhörbares Lachen. Hätte sie nicht gleich alle meine Schwächen lang und breit offen legen können?
Die Liste war lang. Lese-Rechtschreib-Schwäche. Sitzenbleiber. Jungfrau. Nicht Deutsch. Auch kein Ausländer. Kein Orientierungssinn. Eine Mutter, die alles mit einem Augenzwinkern kommentiert. Ein Vater, der nach jedem Satz schnieft.
Und das war längst nicht alles. Und stand alles nicht auf ihrer Liste. Und sie würde nichts davon herausfinden. Weil ich sofort tot umfallen würde.
Mein letzter Gedanke: ‚Nenn mich ruhig Emil.‘
Ich erinnerte mich an meinen Traum. Um mich herum das Stimmengewirr der ‚Luser, Coolen, Langweiler, Auslender, Assis, Linken, Faschos, Sträber‘. Unzählige Sprachen, ich kann sie nicht verstehen, es regnet Buchstaben, die sich schmerzhaft in meine nackte Haut bohren, ich schreie, ich sterbe, jemand nimmt meine Hand. Die Buchstaben fliegen zueinander, versammeln sich zu Wörtern, die ich erkenne…
Ein Blatt Papier schob sich in mein Blickfeld. Und so kam auch Kamelion wieder zum Vorschein. Sie hob ihren beringten Daumen fragend in die Höhe. Zur Unterstützung auch noch eine ihrer buschigen Augenbrauen. Ich nickte.
„Emil. Neunte. Förder.“
Mit schwankenden Schritten bewegte sich Kamelion auf die ‚Sträber‘ zu. Als wollte sie nochmal extra klar stellen, wie weit weg ich bin.
Ich wusste inzwischen längst, dass einsam ohne h geschrieben wird. Ich hätte mir aber endlich auch merken müssen, dass Aggression mit doppeltem g und doppeltem s geschrieben wird. Autorität mit ä. Und Gerechtigkeit mit g und k.
Als ob Förder nicht Strafe genug ist, hatte man den Unterricht auf Freitagnachmittag gelegt. Ich versuchte, mit meinen Eltern zu verhandeln. Gar nicht hingehen? Erst nächste Woche hingehen? Augenzwinkern und Schniefen. Und ich ging hin.
Obwohl Kamelion es ja bereits lauthals verkündet hatte und die Coolen ihre Konsequenzen gezogen hatten, versuchte ich mich auf dem Weg zum Förder unsichtbar zu machen. Ein voller Raum tat sich vor mir auf. Und ein unsichtbarer Vorhang. Die Jungs rechts versammelt, die Mädchen links. In der Mitte… Kamelion. Der Vorhang öffnete sich. Ihre kugeligen Augen strahlten mich an, und sie klopfte hektisch mit der Handfläche auf den leeren Platz neben sich. Ich dachte an das Spiel, an dem immer irgendein Platz frei ist. Meistens war es der, den ich nicht wollte.
Ich kann mich nicht erinnern, jemals so überrascht gewesen zu sein. So verblüfft. So perplex. Und trotzdem nicht sprachlos.
„Emin. Ich bin Emin.“
Ich setzte mich.
Ich habe herausgefunden, dass der Farbwechsel des Chamäleons vor allem von dessen Stimmung abhängig ist. Es ist ein weit verbreiteter Irrtum, dass die Veränderung der Farbe nur zur Tarnung dient. Das Chamäleon kommuniziert auf diese Weise. Manchmal wechselt es seine Farbe auch einfach nur, um die Sonnenwärme besser einfangen zu können. Wie ein Blatt im Wind schaukelt es hin und her. Und seine einzigartigen Augen machen es unmöglich, sich unbemerkt an das Chamäleon heranzuschleichen…
Eine der besten Geschichten, die ich je gelesen habe! Die Beschreibungen sind inspirierend! Und die Geschichte passt sehr gut zu den Cliquen die heutzutage so gegründet werden und die Probleme die Jugendliche so haben.
Die Redaktion bedankt sich im Namen der Autorin. Der Eintrag wird ihr weitergegeben.
Herzl. Gruß Redaktion zugetextet.com