30 Jahre!
Kommentar von Walther
Es gibt Anlass dazu, sich über drei Jahrzehnte wiedergewonnene Einheit zu freuen. Nach fast 60 Jahren Diktatur haben die Menschen auf dem Gebiet der ehemaligen DDR mit friedlicher Macht unaufhaltsam die Einheit gesucht, Freiheit und D-Mark vor Augen und als Antriebskraft. Heute können wir es uns gemeinsam leisten, einzuräumen, dass es die Aussicht auf die Freiheit allein nicht war, die die letzte Regierung der DDR und die freigewählte letzte Volkskammer dazu bewogen, den Beitritt zu beschließen, der mancherorts als Anschluss diskreditiert wird.
Es ist schlicht ungeschichtlich, von Anschluss zu reden. Wer das tut, hat entweder keine Ahnung, war nicht dabei oder spielt ein böses Spiel mit der Sprache.
Ja, wir haben gemeinsam viel erreicht. Die Ehrlichkeit sollte es uns aus der Rückschau erlauben, dass wir zugleich viel falsch und nicht gut genug gemacht haben. Es reicht nicht aus, auf den Umstand zu verweisen, dass Ganze sei schließlich eine Premiere ohne vorheriges Training gewesen, da wären Fehler unvermeidlich. Das ist richtig. Es gab aber Fehlentwicklungen, die man vorher hätte wissen können und müssen.
Da waren westdeutsche Gewerkschaften und mit ihnen verbündete westdeutsche Großunternehmen, die bei der Privatisierung der volkseigenen Betriebe durch die Treuhand maßlos eigene Interessen vertraten und potentielle Wettbewerber eiskalt ausschalteten. Da waren Steuergeschenkverteiler in der Form von Steuerabschreibungen für den Erwerb von Immobilien in den neuen Bundesländern, die man besser in eine Art zollfreier Zone mit Steuerbefreiung für mittlere Unternehmer und Gründer investiert hätte. Es hat diese Vorschläge u.a. vom Autor dieses Kommentars gegeben. Man könnte sie einsehen, wenn man denn wollte.
Ja, wir haben Freiheit und Selbstbestimmung, aber zugleich haben wir zwei Generationen, die in der DDR die besten ihres Lebens verbracht haben, kühl mitgeteilt, dass wir sie nicht mehr brauchen und ihr Leben nichts wert war und ist. Wir haben Beamte aus der zweiten und dritten Reihe in die neuen Bundesländer zum Aufbau von Verwaltungen und Justiz geschickt, die besonders viel Besserwisserei und weniger fachliches Können mitgebracht haben. Gebraucht hätte es die Besten und darunter die mit viel Empathie und Feingefühl. Das ist wie alle Verallgemeinerungen im Einzelfall ungerecht, aber leider grosso modo wahr – der Kommentator war selbst dabei und hat es miterlebt, wie so mancher Wessi wie die Axt im Walde agiert hat.
Trotzdem können die Menschen in Deutschland mit einem gewissen Stolz auf das zurückblicken, was aller Widrigkeiten und Fehlversuchen zum Trotz an Fortschritt erreicht worden ist. Die faktische Einheit ist erreicht, die der Seelen nicht. Es wohnen immer noch zwei Seelen in der deutschen Brust: eine west- und eine ostdeutsche. Die Unterschiede haben sich abgeschliffen. Gemeinsame Erfahrung und gemeinsame Geschichte schafft Gemeinsamkeiten. Bis die Traumata der Wiedervereinigung verarbeitet sind, die aus Zurücksetzung – sei sie eingebildet oder tatsächlich – entstanden sind, werden möglicherweise weitere drei Jahrzehnte vergehen, bis der letzte, der es miterlebt hat, den Gang alles Menschlichen gegangen ist und in der Erde ruht.
Wollen wir hoffen, dass dann eine Seele in unsere Brust wohnt, die zugleich deutsch ist, europäisch und weltoffen. Die in Freiheit ihre Zukunft gestalten darf, ohne die Angst vor einer Gestapo oder einer Stasi zu haben. Das wäre uns zu wünschen. Und unseren Nachbarn auch.
Lieber Herr Stonet,
nach einem weiteren Jahr Einheit bin ich erstmals auf diesen Ihren Artikel gestoßen. Sie sprechen mir aus der Seele, Ihre kritische Stimme trübt dabei keineswegs die inzwischen zum Guten weiterentwickelte Mentalität – beider Seiten. Als “Wessi”, der immer noch nicht die thüringische Heimat seiner Mutter bereist hat, habe ich seinerzeit die Bewerbung “aus der zweiten oder dritten Reihe”, wie Sie schreiben, nur deshalb nicht eingereicht, weil ich mich in einem noch lukrativeren Job befand. Einerseits war es wohl besser, andererseits hätte es mir die Augen früher geöffnet. So habe ich erst später verinnerlicht, dass die “Wiedervereinigung” das war, was in der Wirtschaft “feindliche Übernahme” genannt wird. Aber Politik ist eben Unternehmensphilosophie. Daran hat sich nichts geändert, seit Parteien sich als Kapitalgesellschaften verstehen, deren Führungspersonal sich auf Posten, Pöstchen und Prämien konzentriert. Wenigstens haben wir “hier unten” uns von denen “da oben” mental abgenabelt und verstehen uns untereinander. Auch wenn Freiheit und freies Durchatmen weiterhin ein teures Gut bleiben, das wir uns ständig erarbeiten müssen.
Beste Grüße.
Michael Kothe
Lieber Herr Kothe,
dadurch, dass ich selbst Teil dieser Geschichte gewesen bin, habe ich einen anderen Blick auf die Dinge. Wer nicht dabei war, tut sich schwer, die ganze Gemengelage zu durchschauen.
Sie haben mit Ihrer Bemerkung, die Parteien agierten wie Unternehmen, eine neue Front eröffnet. Auch da habe ich den Blick von innen und von außen. Ich muss und darf Ihnen daher deutlich widersprechen. Die Frage, wie sich die politische Klasse verhält, ist keine der Wirtschaftsordnung. Sie ist eine des Ethos und der Moral. Sich darüber auszutauschen, wäre mehr als abendfüllend.
Beste Grüße
Walther Stonet