Ran an den Speck
von Ronja Rost
Fabia liebte Ausschlafen über alles. Oder wenn ihr ein langer Schlaf nicht vergönnt war, dann immerhin ein ausgiebiges im Bett rumliegen, wobei die Decke selbstverständlich bis zur Nase hochgezogen wird.
Und heute, an einem Sonntag, konnte man das ganz ausgiebig machen. Eigentlich. Hätte sie sich zum neuen Jahr nicht vorgenommen, mindestens einmal die Woche auf das Laufband zu gehen, was ihre Eltern ihr zu Weihnachten geschenkt hatten. Selbst einmal die Woche war schon reichlich wenig, aber in der Woche fanden sich immerhin noch gute Ausreden, warum es gerade heute nicht klappte.
Da wären zum Beispiel die Schule, Hausaufgaben, Freunde, …
Sie hätte die Liste ewig lang fortsetzen können, aber tief in ihr drinnen wusste Fabia, dass das nicht sonderlich zielführend war. Daran erinnerte sie auch ihr kleines Bäuchlein, welches sich unter ihrem knallroten Schlafanzugoberteil abzeichnete. Am liebsten hätte sie diesen noch eine Weile unter der warmen Decke versteckt. Aber das kam nicht in Frage.
Ihr Wecker hatte bereits geklingelt, und wie jeden Sonntag hatte sie mit einem lauten Stöhnen auf ihn draufgeschlagen, woraufhin das nervtötende Ding verstummte. Außerdem hatte sie sich vergewissert, dass wirklich 7:45 Uhr auf der Anzeige stand. Vielleicht hatte er ja zu früh geklingelt. Aber natürlich hatte er das nicht. Sie stöhnte. Ganz vorsichtig streckte sie ihren nackten Fuß unter der Bettdecke hervor. Kalte Luft berührte ihre Zehen. Hastig zog sie den Fuß wieder unter die Decke. Mit ihrer rechten Hand tastete sie nach einem flauschigen Socken, den sie im Schlaf bestimmt irgendwo unter der Decke verloren hatte. Vergebens. Er war einfach nicht aufzufinden. Noch missmutiger als zuvor schlug sie die Decke weg, griff aber sofort nach ihrem Bademantel, da der Raum ungefähr die Temperatur eines Kühlfaches aufwies. Jedenfalls kam Fabia das so vor. Mit ihrer rechten Hand fuhr sie sich durch die zerstrubbelten Haare, die in alle Richtungen abstanden, und ihr sofort wieder ins Gesicht fielen.
Noch leicht verwirrt von der Uhrzeit begann sie sich nach ihren Sportklamotten im Zimmer umzusehen. Vielleicht waren sie ja in der Wäsche. Dann musste sie nicht aufs Laufband gehen. Doch eigentlich konnte das nicht sein, denn ihre Mutter sorgte stets dafür, dass die Wäsche schnell wieder als duftende Klamotten im Schrank aufzufinden waren. Also tapste sie schlaftrunken zu ihrem Kleiderschrank. Auf dem Weg dahin stolperte sie über ihre schwarze Handtasche, die sie nach dem gestrigen Treffen mit ihrer Freundin achtlos auf den Boden geworfen hatte. Gerade so konnte sie sich noch an der Wand abstützen, sonst wäre sie volle Kanne gegen die Dachschräge geknallt. Und auf eine Gehirnerschütterung hatte sie jetzt gerade auch nicht so viel Lust.
Ohne weitere Unfälle erreichte sie dann ihren Schrank aus massivem Kiefernholz. Sie griff nach dem schwarzen Knauf und zog daran. Ein ganzer Stapel T-Shirts und Pullover landeten vor ihr auf dem Boden. Sie musste den Schrank mal wieder viel zu vollgestopft und keine Lust zum Sortieren gehabt haben. Das passierte öfter mal.
Jetzt musste sie es aber wohl oder übel wieder zurück in den Schrank räumen. Und zwar ordentlich, damit ihre Mutter nicht wieder sagen konnte: „Wofür bügel ich das Zeug eigentlich, wenn es eh nur zerknüllt auf dem Boden rumliegt.“
Aber diese wundervolle Aufgabe würde sie sich für später aufbewahren, denn (glücklicherweise) war auch ihr neongrünes Sporttop mit auf den Boden geplumpst. Sie zog es aus dem Stapel hervor und suchte in der Geschwindigkeit eines müden Faultiers ihre restlichen Sachen zusammen, die sie benötigte. Möglichst leise öffnete sie die Schiebetür ihres Zimmers, um die restliche Familie nicht zu wecken. Auch wenn es eigentlich sinnlos war, denn wenn sie auf dem Laufband lief, verursachte dies so oder so eine gewisse Lautstärke. Dennoch ging sie auf Zehenspitzen die kühle Holztreppe hinab, wobei sie die letzte Stufe ausließ, denn diese gab jedes Mal ein fürchterlich knarzendes Geräusch von sich.
Als sie mit beiden Füßen den blauen Teppich vor der Treppe erreicht hatte, schlug Fabia erstmal den Weg Richtung Küche ein, denn ganz ohne zumindest einen kleinen Happen vorher zu essen, konnte sie sich unmöglich sportlich betätigen. Doch was sollte es sein? Die Auswahl war viel zu groß, weil ihre Mutter immer so einkaufte, als stünde der nächste Weltkrieg bevor, und man müsste sich mindestens drei Wochen lang in der Wohnung verschanzen.
Verhungern würde in diesem Haus jedenfalls keiner, wie Fabia mal wieder mit einem missbilligenden Blick auf ihr Bäuchlein feststellte. Leider gehörten zu den „Essensvorräten“ auch Unmengen an Schokolade bzw. Lebensmittel, an oder in denen Schokolade enthalten war, denn das würde im Falle eines Krieges Endorphine freisetzen und als Stimmungsheber fungieren können. Den letzten Punkt bezweifelte Fabia zwar stark, aber eine Ladung Endorphine konnte sie jetzt trotzdem gut gebrauchen. Also packte sie eines der kleinen Schokocrossaints aus und biss herzhaft hinein. Nach zwei Bissen war das kleine Ding allerdings schon vollständig in ihrem Mund verschwunden, und die Wirkung der Schokolade begann noch nicht einzusetzen.
Sollte sie noch warten, um etwas Motivation aufzubauen? Vielleicht lieber nicht. Sie befürchtete, dass sie wahrscheinlich eher noch an Motivation verlieren als gewinnen würde. Aber so eine kleine Pause vor dem Laufen brauchte sie jetzt schon noch. Man sollte ja schließlich nicht direkt nach dem Essen Sport machen. Das hatte man ihr schon sehr früh beigebracht und daran hatte sie immer festgehalten. Außerdem musste sie auch noch was trinken. Also goss sie sich noch ein Glas Schokomilch ein und schaute aus dem Küchenfenster in den Garten.
Die Vögel hatten sich um das kleine Futterhäuschen versammelt und pickten eifrig die Körner auf oder hingen an den Meisenknödeln. Hinter ihrem Grundstück konnte sie einen Blick auf die kaum befahrene Straße werfen. Schon jetzt konnte sie vereinzelt Jogger beobachten, wie sie mit ihren durchtrainierten Waden ihre morgendliche 10-Kilometer-Runde absolvierten. Und wenn sie wieder zu Hause ankamen, hatten ihre Wangen nur diesen leicht rötlichen Schimmer. Im Gegensatz dazu schaffte sie gerade einmal mit Müh und Not drei Kilometer auf dem Laufband ohne Steigung. Und danach hatte sie keinen rötlichen Schimmer, sondern ein puterrotes Gesicht, vom Schweiß einen klatschnassen Haaransatz und sie keuchte, als wäre sie mindestens einen Marathon gelaufen. Es war schon etwas deprimierend, wenn man sich diese Tatsachen jedes Mal vor das Auge führte. Aber statt sie somit zu motivieren, steigerte es eigentlich eher ihre Unlust zum Laufen, da sie sich sicher war, das eh nicht zu erreichen.
Fabia trank den letzten Schluck ihrer Schokomilch, stellte das Glas auf den Tisch und verschwand im Badezimmer. Dort öffnete sie zunächst die Tür des alten Spiegelschranks, auf dessen Oberfläche Flecken zu sehen waren, dessen Herkunft man nicht allzu genau wissen wollte. Sie fischte eines ihrer vielen braunen Haargummis hervor, womit sie sich ihre Haare mehr schlecht als recht zu einem Zopf zusammenband. Immerhin waren ihre Haare damit einigermaßen gebändigt. Langsam begann sie ihre Sportklamotten anzuziehen, wobei es immer wieder ein Hindernis darstellte, die enge Sporthose hochzuziehen. Eigentlich war alleine dieser schwerwiegende Akt schon Sport genug. Bevor sie das Badezimmer wieder verließ, betrachtete sie sich für einen Moment im Spiegel. Wach sah sie ja nicht gerade aus. Und das Gesicht, was aus dem Spiegel zurückblickte, strahlte ungefähr so viel Freude aus wie Grumpy-Cat.
Sie zuckte mit den Schultern, öffnete die Tür, ging in das Büro ihres Vaters, wo auch das Laufband stand. Groß und dunkel stand es dort in der Ecke und wartete nur auf Menschen wie Fabia, die es quälen konnte. An der Wand gegenüber war ein Fernseher angebracht, den sie anschaltete, damit sie nicht die ganze Zeit an die Wand starren musste. Sie kramte eine DVD hervor, die sie währenddessen schauen wollte, und legte sie ein. Dann kam der Moment vor dem sie sich schon gefürchtet hatte: Sie betrat das Laufband und drückte den Startknopf. Langsam begann es sich zu bewegen und zwang somit auch Fabia sich in Bewegung zu versetzen. Sie begann zu joggen. Ihre Atmung versuchte sie dabei unter Kontrolle zu halten und nicht gleich viel zu schnell zu atmen. Dann würde sie nämlich nicht sehr lange durchhalten. Doch schon noch zwei Minuten begann sie zu schnaufen. Klasse. Sie fühlte sich wie ein Walross. Wahrscheinlich würde das jetzt noch nicht einmal schnaufen.
„Reiß dich zusammen“, dachte sie, „reiß dich gefälligst zusammen. Du kannst nicht jetzt schon wieder aufhören. Das geht nicht.“
Plötzlich ertönte ein lautes Pochen an der Tür. Gefolgt von der genervten Stimme ihres Bruders: „Es gibt auch Leute, die sonntags nicht von deinem lauten Getrampel geweckt werden wollen.“
Zu gerne hätte sie auf diesen Kommentar etwas erwidert, doch dazu fehlte ihr leider die Luft. Wenn es ihn störte, gut, dann war das halt so. Sie tat immerhin etwas für ihre Figur. Um ihn zu ärgern, stellte sie eine höhere Laufstufe ein, weil sie wusste, dass sie dann noch lauter Trampeln würde. Sicherlich würde ihn das ärgern. Sie rannte schneller und keuchte noch lauter als vorher. Das war echt eine Herausforderung. Egal, noch schneller. Sie tippte eine noch höhere Geschwindigkeit ein. Doch so schnell konnte sie nicht mehr laufen. Ihre Füße wollten sie nicht tragen, sodass sie immer weiter nach hinten kam und das Ende des Laufbands schon fast erreicht hatte. Sie wollte wieder langsamer laufen, aber sie kam nicht mehr an die Knöpfe. Das Stoffband, welches sie an ihrer Hose befestigt hatte, riss aus der Verankerung des Laufbands vorne heraus, und ruckartig kam dieses zum Stehen. Fast wäre sie heruntergefallen.
Laut atmend schaute sie auf die Kilometeranzeige. 1,2 Kilometer. Das sollte für heute reichen.
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