Expressionistische Poemkleinode
Rezension von Walther
Paul Boldt, Junge Pferde! Junge Pferde!, Rabenpresse, Imprint des VSS Verlags, 2. Auflage, Frankfurt/Main 2021, viele Gedichte erstmals erschienen 1914, 122 S., Softcover Taschenbuch, € 9,95
Warum, um Himmels Willen, werden 2021 Gedichte aus den Jahren 1912 bis 1921 besprochen? Ganz einfach: Weil sie gut sind. Weil es nötig ist, sich auch heute der Poesietradition der Moderne zuzuwenden, aus der das, was heute geschrieben wird, entstand. Wer meint, Literatur könnte ohne historischen Bezug verstanden werden oder gar entstehen können, dem sei hier deutlich widersprochen.
Der Turmsteiger
Er fühlte plötzlich, dass es nach ihm griff,
– Die Erde war es und der Himmel oben,
An dem die Dohlen hingen und die Winde oben –
Und fühlte, wie es ihn nun auch umpfiff.
Ihn schauderte. Er sah das Meer, er sah ein Schiff,
Das gelbe Wellen schaukelten und schoben
Und sah die Wellen, Wellen – Wellen woben
An seinem unvollendeten Begriff.
Ein Wasserspeier sprang ihn an und bellte.
Er zitterte und fasste die Fiale,
Die knarrend brach; – versteinerte aber schnellte
Ein Teufel Witze auf die Kathedrale; –
Er hörte – in ein höllisches Finale:
Er stürzte, fiel! Sein Schrei trieb hoch und gellte.
Dieses formal fast perfekte Sonett finden wir auf S. 17 dieses kleinen in Gelb gewandeten Bändchen mit dem schön gestalteten Umschlag, dessen auf Vorderseite ebenso ausdrucksstark daherkommt wie sein Inhalt. Paul Boldt, der Autor der Werke, wurde 1985 in Westpreußen geboren, das heute zu Polen gehört. 1921 verstarb er in Freiburg im Breisgau an einer Lungenembolie als Folge einer Blinddarmoperation. Die meisten Werke wurden 1914 veröffentlicht und schlugen damals ein wie Donnerhall.
Man kann es vielen der Texte heute noch nachempfingen, dass sie etwas Besonderes sind. Während der Expressionismus weitgehend vergessen wurde – wenigstens in der Literatur –, ist er in der bildenden Kunst ein Begriff geblieben. Das obige Sonett zeigt exemplarisch auf, was ihn auszeichnet: exaltierte Sprache, ausdrucksstarke Metaphern, die auf den ersten Blick nicht zusammenzugehören zu scheinen; es wird nicht das Gesehene beschrieben, sondern das gesamte Fühlen und Denken, das durch das Erleben ausgelöst wird, in den Text gepackt, so dass daraus eine neue Wirklichkeit entsteht.
Impression und Expression sind sozusagen die Antipoden in der modernen Kunst. Man könnte sie auch mit Innen- und Außensicht beschreiben. Es geht nicht darum, die Realität zu rezipieren, es geht darum auszudrücken, was sie im Künstler auslöst. Diese Revolution in Kunst und Literatur nahm Ende des 19.Jahrhunderts als Aufbegehren gegen die damals zur Unbeweglichkeit erstarrte Auffassung von dem, was Kunst und Literatur von Wert, Qualität und Aussage wäre, hatte viele Spielarten und Schulen zum Ergebnis. Der Expressionismus ist ein unterschätzter Weg, nicht nur künstlerischen, sondern auch sozialen und politischen Protest zu formulieren.
Junge Pferde
Wer die blühenden Wiesen kennt
Und die hingetragene Herde,
Die, das Maul am Winde, rennt!
Junge Pferde! Junge Pferde!
Über Graben, Gräserstoppel
Und entlang den Rotdornhecken
Weht der Trab der scheuen Koppel,
Füchse, Braune, Schimmel, Schecken!
Junge Sommermorgen zogen
Weiß davon, sie wieherten.
Wolke warf den Blitz, sie flogen
Voll von Angst hin, galoppierten.
Selten graue Nüstern wittern,
Und dann nähern sie und nicken,
Ihre Augensterne zittern
In den engen Menschenblicken.
Das Gedicht auf S. 35 ist titelgebend für die Erstausgabe sowie für diese späte Gesamtausgabe. Warum, kann man verstehen, wenn man diesen begeisternden Text liest. Es sind diese Kleinode an Sprache, die es immer wieder zu entdecken und für sich anstoßgebend zu erschließen gilt. Dank Hermann Schladt, dem Verleger der Rabenpresse, kann das auch heute erneut gelingen, dem Poeten Paul Boldt in Erinnerung zu rufen und neue Wirkung zu verleihen.
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