31052022 Doppelausschreibung 13_14 Selbstaufgabe_Egozentrik LOGO

Schwarzer Tag

von Lara Waas

Töten oder getötet werden. Bills Atem stieg in grauen Wölkchen in die dunkle Nacht empor.
Er atmete zu schnell. Aber wie zügig war eine normale Atmung? Vor vielen Jahren hatte sein Vater es ihm gesagt. Damals hatte er ihn das erste Mal zur Jagd mitgenommen.
„Man merkt einem Tier seine Angst an seinem Atem an. Und sie merken uns unsere Angst an. Deshalb müssen wir immer gelassen weiter atmen, selbst wenn wir überhaupt nicht gelassen sind. Mach es mir nach: Acht Sekunden einatmen und dann zwölf ausatmen.“
Oder waren es sieben Sekunden ein- und elf ausatmen? Obwohl er das Bild seines Vaters noch genau vor Augen hatte, wie sich sein Brustkorb kontrolliert hob und wieder sank, konnte er sich nicht an die Anzahl erinnern. Er probierte verschiedene Kombinationen, doch keine davon half, und am Ende ging sein Atem noch schneller.

Wie lange stand er nun schon hier? Die Hände, die einst das selbstverständliche Ende seiner Arme gewesen waren, konnte er wegen der Kälte kaum mehr spüren. Seine Füße schmerzten. Am liebsten wäre er sofort losgerannt, hätte sich einfach in den Dschungel gestürzt. Töten oder getötet werden. Er konnte die Anspannung kaum mehr ertragen. Hier draußen fühlte er sich wie von tausend schwarzen Augen beobachtet, die ihn für seine Torheit auslachten. Doch er musste noch warten, nur noch ein bisschen. Immerhin kannte er das Revier nicht. Obwohl er die Karte zuvor gründlich studiert hatten, wäre sein Unterfangen im Dunkeln zum Scheitern verurteilt.
„Das erste Mal hier, was?“, hörte Bill eine Stimme sagen und zuckte zusammen. Er hatte ganz vergessen, dass er nicht allein war. Was für eine Art von Jäger achtete nicht auf seine Umgebung? Als er herumfuhr, sah er neben sich einen Mann stehen. Der Fremde grinste und seine Zähne erinnerten Bill an die Fangzähne einer Raubkatze.
„Ja“, murmelte er. War das denn wirklich so offensichtlich?
„Lass mich raten – die Kinder?“ Wieder richtig! Bill konnte spüren, wie das Blut ihm in die Wangen stieg.
„Kein Grund sich zu schämen, ganz im Gegenteil! Ich bin auch für meine zwei hier.“ Der Fremde kramte in seiner Hosentasche und zog einen Geldbeutel daraus hervor. Als er ihn aufschlug, konnte Bill die glänzende Fläche eines Fotos und darauf die Umrisse von zwei düsteren Gestalten erkennen.
War der Fremde etwa ein Seelenverwandter? Bill hatte auch zwei Kinder, die gerade zu Hause und in Sicherheit in ihren Betten schliefen. Nur für sie war er um Mitternacht losgezogen. Nur für sie begab er sich in das Unbekannte, das auf ihn im Dschungel lauerte.
„Ich gehe schon seit Jahren auf die Jagd“, fuhr sein Gegenüber fort und zwinkerte ihm zu. „Und jedes Jahr ist die Beute besser als das letzte.“
„Irgendwelche Tipps?“, fragte Bill.
„Nur einen: Lauf so schnell du kannst!“ Das Lachen seines Gegenübers erfüllte die Nacht wie das lechzende Heulen eines Wolfes. „Ach ja, und im Zweifel kann sowas nicht schaden.“ Er zog den rechten Jackenärmel hoch und entblößte den Oberarm. Seine Muskeln waren so gewaltig, dass sie die Adern an die Hautoberfläche drückten und den Arm wie eine Landkarte mit vielen Flüssen aussehen ließen. „Wir sollten uns zusammenschließen. Du siehst schnell aus. Wenn du vorausläufst und ich uns die Horde vom Leib halte, sind wir unschlagbar.“

Bill war noch nie in irgendeiner Sportart gut gewesen, aber seine Kondition war ganz passabel, da hatte sein Gegenüber recht. „Ja, in Ordnung.“ Der Muskelprotz hielt ihm die Hand hin und Bill schlug ein. Dabei simulierte er einen möglichst starken Händedruck, doch sein Gegenüber drückte stärker.
„Es kann jetzt nicht mehr lange dauern“, sagte Bills neu gewonnener Gefährte und nickte gen Himmel. Dort ließ sich ein erster blau-grauer Streifen erkennen – das Versprechen eines neuen Tages. Die ganze Nacht über hatte Bill hierauf gewartet und jetzt wollte er am liebsten wegrennen. Während des Gesprächs hatte er seine unregelmäßige Atmung vergessen. Jetzt war er so nervös, dass er beinahe komplett vergaß, Luft zu holen.
„Wie ist eigentlich dein – “, wollte er gerade den Namen seines Gefährten erfragen, doch er wurde von einem lauten Knall unterbrochen. Ein Schuss? Ja, jede Jagd begann mit einem Schuss. Es war das Signal dafür, dass die Jagd eröffnet war.

Vor ihm taten sich die Tore zum Dschungel auf und durch das sich langsam anschleichende Morgenlicht konnte Bill ihn in seiner ganzen Schönheit erkennen. Doch er war gar nicht wie er ihn sich vorgestellt hatte. Er hatte mit einem undurchsichtigen Dickicht gerechnet, mit einem Durcheinander von nicht zuordnungsbaren Lauten, einem unheilvollen Loch, das drohte, ihn zu verspeisen. Stattdessen war er so… ruhig. Das Grün der Blätter glitzerte im Tageslicht und von irgendwo her hörte er Wasser plätschern. Für einen Moment fragte sich Bill, ob er falsch gelegen hatte. Vielleicht traf das Mantra „töten oder getötet werden“ doch nicht zu…
Allerdings wurde er gleich des Besseren belehrt. Die Meute hinter ihm schob ihn vor. Sie alle wollten die Ersten im Dschungel sein, um die besten Chancen auf die Beute zu haben. Wie ein einziger Schleier verdeckten sie den Eingang, sodass das Morgenlicht nicht hindurchkommen konnte und es vor ihm wieder stockfinster wurde. Der Tag färbte sich schwarz. Und hier war er, der Dschungel, vor dem Bill eine solche Angst gehabt hatte: düster, bedrohlich, tödlich. Doch nun gab es keinen Weg zurück. Er musste der Horde hinter ihm gehorchen, die ihn weiter und weiter hineindrängte. Also rannte er los.

Er rannte vorbei an der riesigen Palme, die Eindringlinge des Dschungels direkt an dessen Eingang in Empfang nahm. Vorbei an dem Wasser, das nichtsahnend dahinplätscherte. Vorbei an den vielen Pflanzen, die ihn auf beiden Seiten umringten. Während er rannte, vergaß er den Schmerz seiner Füße, die Kälte seiner Hände, die Unregelmäßigkeit seines Atems. Alles, was zählte, war das Ziel: seine Beute.
Obwohl er der Jäger war, fühlte er sich wie ein Gejagter. Hinter ihm konnte er das Grölen der Meute hören. Sie waren wie er. Sie wollten auch nur jagen. Vielleicht für ihre Familien, vielleicht für sich selbst. Doch er war schneller. Und sein Gefährte hielt sein Wort. Wann immer jemand drohte Bill zu überholen, rempelte der Muskelprotz den Überholenden von der Seite an, woraufhin dieser erstmal anhalten musste, um nicht hinzufallen.
In der Ferne konnte Bill einen Mann mittlerer Statur erkennen, der zwischen ihm und seiner Beute stand. Die Leuchtstreifen auf der Jacke des Mannes blendeten Bills Augen. Wo war der bloß hergekommen? Er musste sich schon in der Nacht in den Dschungel getraut haben. Da er Bill den Weg nach vorne hin versperrte, würde sein Gefährte nichts gegen ihn ausrichten können. Töten oder getötet werden.

„He, etwas lang –“, rief der Feind ihm zu. Daraufhin rannte Bill noch schneller. Kurz vor der Kollision sprang der Feind zur Seite. Bill rammte ihn im Vorbeilaufen mit der Schulter, woraufhin er ein dumpfes Krachen hörte. Er hatte den Feind zu Boden gebracht.
Nun waren es nur noch wenige Meter. Er würde es schaffen. Er würde es tatsächlich schaffen! Schon sah er das strahlende Grinsen seiner Kinder vor sich. Wie sehr sie sich freuen würden! Plötzlich spürte er einen harten Schlag in die linke Seite. Mit einem Mal wich ihm die gesamte Luft aus den Lungen und er stolperte. Während er versuchte, sein Gewicht aufzufangen, sah er die blitzenden Fangzähne seines Gefährten. Sie grinsten ihn feindselig an. Töten oder getötet werden. Dann schlug er mit dem Kopf gegen eine harte Oberfläche und ging zu Boden. Um ihn herum wurde es schwarz.

~

Als er wieder zu sich kam, schmerzte sein Schädel höllisch. Er blinzelte ein paar Mal und versuchte, seine Orientierung zurückzugewinnen. Der Trubel war ein wenig abgeklungen. Dennoch konnte er nicht lange bewusstlos gewesen sein, denn es kamen noch ein paar Nachzügler hinter der Meute her getrottet. Sie waren zu spät, genau wie er. Sein vermeintlicher Gefährte war längst verschwunden.
Dann sah er sie. Seine Beute. Oder dort, wo seine Beute hätte sein sollen. Aber das Regal war leer. Es war nichts mehr da. Die Geier hatten kein Staubkorn übriggelassen. Über dem leeren Regal hing ein riesiges, zuckerwattenpinkes Banner, auf dem in schwarzen Großbuchstaben stand: „BLACK FRIDAY SALE – Die ersten 10 Exemplare kostenfrei!”

Bill rieb sich den schmerzenden Kopf und stand auf. Da er nicht mit leeren Händen heimkehren konnte, kaufte er ein, bis er die Tüten kaum mehr tragen konnte. Die Ausbeute ist immer noch groß, versuchte er sich selbst zu trösten.
Als er das Einkaufszentrum verließ, war es draußen wieder dunkel. Er ging vorbei an den Kunstpflanzen, die die Eingänge der Geschäfte auf beiden Seiten schmückten. Vorbei an dem Brunnen, der immerwährend weiter plätscherte. Vorbei an der riesigen Palme, die ihn am Eingang verabschiedete.
Immerhin wusste Bill nun, was für eine erfolgreiche Jagd zu tun war. Töten oder getötet werden. Bestimmt schaffte er es nächstes Jahr.

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