Ein Plädoyer für ungenierte Selbstgespräche
Essay von Peter Biro
Zeitlebens habe ich Selbstgespräche geführt, meist über Dinge des Alltags, gelegentlich aber auch zu bedeutenderen Themen, als da wären Probleme bei der Arbeit, Geburt, Verpaarung, Tod und Kontroversen darüber, wohin die nächste Reise gehen soll. Vor allem wenn ich mich unbeobachtet fühlte, traute ich mich, mit mir selber lautstark zu hadern.
Ein Gespräch ohne ein Gegenüber im stillen Kämmerlein braucht natürlich keine grössere Überwindung. Ganz anders ist es dagegen, wenn man dabei beobachtet wird. Das führte in meinem Fall gelegentlich zu verwunderten Blicken seitens Ohren- und Augenzeugen meiner leidenschaftlich vorgetragenen Diskurse zwischen mir … und ja, mir selber.
Wie wir wissen, gilt es meist als ungewöhnlich, wenn nicht sogar als verrückt, tief in ein Gespräch verwickelt zu sein, ohne dass jemand anderes daran beteiligt wäre. Man riskiert dabei nicht nur verwunderte Blicke, sondern im schlimmsten Fall auch die Fürsorge von kräftigen, jungen Leuten, die einem ein Kleidungsstück anziehen, dessen Ärmel man am Rücken zubinden kann. Zum Glück ist das heutzutage kein Problem mehr, seitdem nahezu jeder mit einem Mobiltelefon herumläuft und dabei schnurlose Ohrhörer trägt. Sein Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung kann sich währenddessen sonst wo im Weltall aufhalten.
Dank der Verbreitung der erwähnten Kommunikationsmittel werden Augenzeugen eines Selbstgesprächs kaum etwas anderes annehmen als ein gewöhnliches Telefonat zwischen zwei Gesprächsteilnehmern. Allenfalls wird man sich denken, dass der eifrige Kommunikator einen dramatischen Disput über eine besonders heikle Angelegenheit mit seinem Dialogpartner zu besprechen hat, aller Wahrscheinlichkeit nach eine schmutzige Scheidungsangelegenheit. Dieses Phänomen ist beim oberflächlichen Hinsehen nicht von jenem genuinen Selbstgespräch mit sich allein zu unterscheiden.
Ich bin dafür, dass man ungeniert Selbstgespräche in aller Öffentlichkeit führen soll. Dazu gehört auch, dass man erst recht nicht so reagieren darf, als wäre man bei etwas Ungehörigem ertappt worden. Man signalisiere dem verständnislosen Umfeld, dass man etwas Wichtiges zu besprechen hat, und das mit der wichtigsten Person, die es überhaupt gibt: mit sich selber.
Nun ist es gar nichts Ungewöhnliches, wenn man sich lautstark bemühen muss, das Für und Wider von diversen Fragestellungen mit sich selber auszumachen. Drum spreche man gerade jene anstehende Schicksalsfrage ruhig laut aus, die einen gerade intensiv beschäftigt: „Soll ich mein Brot mit Leberwurst oder besser mit Nougatcreme bestreichen, selbstverständlich nachdem ich zuvor eine dünne Schicht Butter als Grundlage aufgetragen habe?“
Diese auf den ersten Blick nachrangig scheinende Bagatelle erwähne ich nur, um das Beispiel einer für mich brennenden Frage zu verdeutlichen. Darüber hinaus sind oft wichtigere Probleme anstehend. Diese bedürfen erst recht einer gründlichen Besprechung, egal wann und wo man sich gerade aufhält. So gesehen drängt sich selbst im Fall der Vorbereitung einer kleinen Zwischenmahlzeit das Bedürfnis nach einem klärenden Meinungsaustausch auf. Dabei sind so viele Gesichtspunkte zu berücksichtigen, dass man gar nicht auf einen Schlag eine Entscheidung treffen kann.
Sogar das eher als nebensächlich empfundene Problem einer angemessenen Brotbestreichung muss man fairerweise von mehreren Seiten anschauen und solange wie nötig ausdiskutieren. Es dürfte kaum jemand anderen auf diesem Erdenrund geben, dem die Frage nach der richtigen Zubereitung des Pausenbrotes so nahegehen würde wie dem hungrigen Betroffenen selber. Allein die Grundsatzfrage, inwieweit Leberwurst und Butter gutnachbarschaftlich harmonieren und in welchem Mengenverhältnis sie aufzutragen sind, bedarf einer lautstark vorgetragenen Analyse. Dito betreffend Nougatcreme und Butter – da werden unerwartet viele Detailfragen aufgeworfen. Solche Fragen kann man nicht aufschieben, bis man alleine im stillen Kämmerlein sitzt, nur weil der Anblick, den man anderen damit bietet, einem peinlich sein könnte.
Keineswegs! Das Ausdiskutieren dieser Angelegenheit hat unmittelbar vor der Imbisstheke zu erfolgen, und zwar bis eine weiterführende Entscheidung erfolgt. Und die Imbissbude befindet sich nun mal im öffentlichen Bereich, wo man der Wahrnehmung durch umstehende Mitesser ausgesetzt ist.
Den eigenen Gedanken ungeniert zu folgen und diese lautstark Auszudrücken ist ein primäres menschliches Bedürfnis, welches ebenso wenig vor fremder Wahrnehmung versteckt werden soll, wie das Einnehmen einer Mahlzeit und das Herunterspülen der obenerwähnten Stulle mit einem Bierchen (vorausgesetzt die Meinung hat sich durchgesetzt, wonach der Leberwurst der Vorzug zu geben ist, wenn diese im Verhältnis 2 zu 1 zur Butter aufgetragen wurde. Bei Nougatcreme würde ich eher zu einem Mischungsverhältnis von 1 : 1 plädieren und einer Limonade den Vorzug geben, aber das müsste ich sicherheitshalber noch mit mir ausdiskutieren).
Wenn also nichts dabei ist, beobachtet zu werden, während man sich Nahrungsmittel oder Getränke in den Mund schiebt, dann sollte es ebenso wenig anstössig sein, wenn von dortselbst wohlformuliertem Wort herauskommen, die dazu dienen, lebenswichtige Fragen zu klären und zu einer zielführenden Entscheidung zu gelangen. Wie im Falle des Brotaufstrichs, aber nicht nur dort.
Die Wissenschaft der evangelisch-methodistischen Neurobiologie hat inzwischen klar aufzeigen können, dass unser Gehirn hierarchisch aufgebaut ist. Da gibt es spezielle Hirnareale, denen wohlsortierte Aufgaben zugewiesen sind wie Sehen, Hören, Riechen, Lesen und Rechnen, letzteres insbesondere, um Preise für Gesundheitsmatratzen vergleichen zu können. Diese Bereiche haben jeweils unterschiedlich viel „zu sagen“, was in hierarchischen Systemen auch in Ordnung ist. Aber auch die unterste der minderen Instanzen hat das Recht auf freie Meinungsäusserung. Deren Ansichten müssen sich durch lautes Aussprechen Gehör verschaffen, wenn sie von den höheren Entscheidungsträgern wahrgenommen werden sollen.
Natürlich schickt es sich nicht, die groben Forderungen jenes primitiven, Lustbarkeitszentrum genannten Hirnareals ungefiltert auszuposaunen, wie z.B. den innigen Wunsch, mit Erika, der kleinen Hilfsfriseusrin im von mir frequentierten Casablanca Hair Studio, bei nächster Gelegenheit auf engere Tuchfühlung zu gehen. So ein Ansinnen hat in der Öffentlichkeit eine gewisse Verklausulierung zu erfahren, bevor es lauthals verkündet wird.
Ein gewiefter Selbstgesprächs-Partner mit einem ansehnlichen Bildungsgrad, der man zwangsläufig für sich selber nun mal ist, wird den Kerngehalt dieser Botschaft wegen der Umstehenden selbstverständlich richtig ausformulieren und das Gesagte ebenfalls richtig interpretieren. Dies selbst dann, wenn man nur augenzwinkernd zu sich selber sagen wollte, dass jene Besenführende, die mit elegantem Schwung die Haare vom Boden zusammenkehrt, allemal einer sachkundig vorgetragenen Annäherung Wert wäre. Natürlich nur, wenn sich eine günstige Gelegenheit dafür böte, so zum Beispiel gerade jetzt, während man sich scheren lässt und Erika wiederholt den Besen in der Nähe schwingt. Dabei murmelt sie, eindeutig in ein Selbstgespräch vertieft, leise irgendetwas in sich hinein, wenngleich noch recht zurückhaltend, ja sogar ein wenig verschämt. Da darf man ungeniert zu sich selber sagen, dass man sie im Vorbeifegen nach ihrer Handynummer fragen müsste. Das könnte der Beginn einer wunderbaren Freundschaft werden, auch ausserhalb von Casablanca.
Die Wissenschaft vom Aufbau und Funktion des Gehirns hat inzwischen noch mehr Interessantes herausgefunden, was meine positive Einstellung gegenüber Selbstgesprächen untermauert. Es hat sich nämlich herausgestellt, dass die beiden Hirnhälften, also die rechte und die linke, ganz unterschiedliche Zuständigkeiten haben. Sie setzen teilweise diametral entgegengesetzte Schwerpunkte.
Die linke Seite ist offenbar fürs analytische und sprachliche Denken ausgelegt, während der Rechten eher das ganzheitliche Erfassen von Sachverhalten und die Bauchgefühl genannte Intuition besser liegen. Gerade deswegen ist die Intuition eher eine Rechtshirnangelegenheit mit eindeutiger Inklination für kreativ-künstlerische Belange. Mit anderen Worten, die pragmatisch veranlagte linke Seite befürwortet eher den Leberwurstaufstrich mit Bier, während das rechte Halbhirn, mit seiner Neigung zu süsslichen Szenarien, eher zur Nougatcreme plus Limonade neigt.
Da der sogenannte „corpus callosum“, die direkte Verbindung zwischen den beiden Hirnhälften, eher schwach ausgebildet und obendrein stets mit der Koordination der Arm- und Beinbewegungen ausgelastet ist, muss die Auseinandersetzung zwischen ihnen regelrecht „outgesourct“ werden. Und das geht nun mal am besten über Sprache und Gehör. Somit wird das lautstarke Selbstgespräch zum lebensnotwendigen modus operandi bei der Beilegung innerer Konflikte und das Finden von Kompromisslösungen.
Verweigert man den beiden antagonistischen Hirnhälften diesen unerlässlichen Kommunikationsweg, läuft man Gefahr, ungelöste und somit psychisch ungesunde Konflikte anzuhäufen, die irgendwann plötzlich ausbrechen und sich als psychotische Phänomene Bahn brechen. Da fragt man sich doch allen Ernstes, darf die Wahrung der Psychohygiene aufgrund einer ungelösten Frage über den richtigen Brotaufstrich scheitern?
Also, als Fazit möchte ich zusammenfassen, dass das Führen von Selbstgesprächen in der Öffentlichkeit vom Ruch des Kauzigen oder gar des Abnormalen zu befreien ist, dass es dem inneren Gleichgewicht dient und, allem voran, dass konstruktive Entscheidungen über die Zubereitung des richtigen Brotaufstrichs auch unter Fremdbeobachtung erlaubt sein müssen. Diese Erkenntnisse werde ich mir nächsten Sonntag um Punkt 14.30 Uhr in der Fussgängerzone mit einem bebilderten Vortrag zu Gemüte führen. Zeugen dieser privaten Fortbildungsveranstaltung sind herzlich willkommen. Ich werde mich jedenfalls bemühen, rechtzeitig da zu sein.