Von der Kunst des Prosaschreibens – Figurenzeichnung: Erschaffen glaubhafter Charaktere
Teil 4: Figurenbenennung im Text
von Mara Laue
Wie sollten wir unsere Figuren „anreden“, während wir über sie schreiben? Benutzt man den Vornamen oder den Nachnamen oder immer beide? Wir alle haben bestimmt schon etliche Bücher gelesen, in denen die eine oder andere Variante vorkam oder alle drei. Westernautor Louis L’Amour nennt seine Helden immer beim Vornamen, wenn er in ihrer Perspektive schreibt. Ian Rankin schreibt über seinen Helden, Inspektor John Rebus, in dessen Perspektive immer nur „Rebus tat/sagte/dachte …“ etc. Dadurch wird deutlich, dass Rankin in semi-auktorialer Perspektive über seinen Helden berichtet (und nicht vollständig aus dessen Perspektive), denn Rebus wird wohl kaum von sich selbst permanent als „Rebus“ denken. Falls doch, so müsste das den Lesenden begründet werden. Diese Variante ist in der britischen und amerikanischen Literatur weit verbreitet, weshalb wir sie in Übersetzungen aus diesen Ländern finden. In Deutschland ist sie eher unüblich und viele Verlage lehnen sie als Perspektivbruch ab. (Mehr dazu in einer späteren Folge über die Perspektiven.)
Die von uns gewählte Variante muss nur durch den ganzen Roman hindurch einheitlich sein, solange wir uns in der Perspektive dieser Figur befinden! Wenn wir die Perspektive wechseln, bezeichnen wir die Figuren immer so, wie die Person, in deren Perspektive wir uns befinden, sie nennt. Kolleginnen/Kollegen, die sich siezen, denken von anderen Mitarbeitenden als „(Herr/der) Schmidt“ oder „(Frau/die) Mayer“, Befreundete denken voneinander ausschließlich mit Vornamen, Verfeindete denken manchmal in Beleidigungen („das Miststück“, „der Scheißkerl“), die den Stellenwert von Namen einnehmen.
BEISPIELE (aus der Mitte eines Textes)
Person: Daniel Arland
- Seine Perspektive
Daniel überquerte die Straße und ging in den Buchladen.
Oder (semi-auktorial): Arland überquerte die Straße und ging in den Buchladen.
- Perspektive eines neutralen Beobachters
Er (= der Beobachter) sah Daniel Arland die Straße überqueren und in den Buchladen gehen.
Oder: Er sah, wie Arland die Straße überquerte und in den Buchladen ging.
Oder wenn die Lesenden wissen, dass sie die Perspektive eines Beobachters lesen: Arland überquerte die Straße und ging in den Buchladen. Denn in der personalen Perspektive müssen wir nicht betonen, dass eine Figur etwas sieht, bemerkt, wahrnimmt, denn das ergibt sich zweifelsfrei aus der Nennung des Gesehenen: Arland überquerte die Straße … Würde der Beobachter das nicht „sehen“, könnten wir das aus seiner Sicht auch nicht schreiben.
- Perspektive eines Freundes
Er (= der Freund) sah, wie Daniel die Straße überquerte und in den Buchladen ging.
Oder: Daniel überquerte die Straße und ging in den Buchladen.
- Perspektive eines Feindes
Er sah den Scheißkerl die Straße überqueren und wünschte sich, ein Auto möge ihn anfahren und ihm alle Knochen brechen.
Oder: Der Scheißkerl überquerte die Straße, und Nico wünschte sich, ein Auto möge ihn anfahren und ihm alle Knochen brechen.
Bei der Verwendung von Nachnamen in der eigenen Perspektive der jeweiligen Figur haben wir bestimmt schon in nahezu allen Romanen und Geschichten einen Geschlechterunterschied festgestellt. Männer wie Daniel Arland oder John Rebus werden mit „Arland“ oder „Rebus“ bezeichnet. Weibliche Figuren werden dagegen fast ausschließlich mit dem Vornamen bezeichnet oder mit Vor- und Nachnamen. Erst in jüngerer Zeit nimmt die Gleichberechtigung auch hier zu und Frauen werden zunehmend ebenfalls nur mit ihrem Nachnamen benannt.
BEISPIELE (aus der Mitte eines Textes)
Person: Jasmin Arland
- Ihre Perspektive
Jasmin überquerte die Straße und ging in den Buchladen.
- Perspektive eines Beobachters
Er (= der Beobachter) sah Jasmin Arland die Straße überqueren und in den Buchladen gehen.
Oder: Er sah, wie die Arland die Straße überquerte und in den Buchladen ging. Hier impliziert außerdem das leicht despektierlich klingende „die Arland“, dass der Beobachter Jasmin nicht leiden kann.
Oder: Die/Jasmin Arland überquerte die Straße und ging in den Buchladen.
- Perspektive eines Freundes
Er (= der Freund) sah Jasmin die Straße überqueren und in den Buchladen gehen.
Oder: Jasmin überquerte die Straße und ging in den Buchladen.
Eine Ausnahme wird meistens nur bei Frauen mit militärischem Hintergrund, Auftragskillerinnen oder anderen Verbrecherinnen gemacht, wenn die Autorinnen/Autoren bewusst eine Distanz zwischen ihnen und den Lesenden erzeugen bzw. die Distanz der Figur zu ihrer Umwelt verdeutlichen wollen. Manchmal wird gerade bei einer Militärzugehörigkeit der Vorname durch den Dienstgrad ersetzt, z. B. „Major Arland“. Bei Fantasyfiguren ohne Familiennamen entfallen diese Überlegungen von vorn herein.
Nebenbei: Auch hinsichtlich der Benennung von Frauenfiguren gibt es eine subtile Klischeefalle. Wenn die männliche Hauptperson oder andere weibliche Figuren eine Frau, mit der sie nicht befreundet sind und sich nicht entsprechend duzen, in ihrer Perspektive oder in wörtlicher Rede nur mit Vornamen „anreden“, Männern aber Vor- und Nachnamen oder nur den Nachnamen (mit oder ohne „Herr“ davor) zugestehen, zeigt das, dass diese Figur die betreffende(n) Frau(en) nicht für voll nimmt. Denn von Familienmitgliedern und Befreundeten abgesehen werden nur Kinder mit Vornamen angeredet, aber nicht Erwachsene. Allerdings kann man dieses Klischee auch bewusst als Stilmittel für Männer- wie Frauenfiguren benutzen, um durch den Vornamen „zwischen den Zeilen“ zu zeigen, dass der Mensch, der so von ihr/ihm denkt, diese Person nicht für voll nimmt.
Eine wichtige Sache ist die namentliche Einführung einer Figur. Die Lesenden sollten bereits im ersten Satz, spätestens im zweiten wissen, mit wem sie es „zu tun haben“. Grundsätzlich ist üblich, die Figuren mit Vor- und Nachnamen vorzustellen und eventuell noch Rang oder Titel hinzuzufügen: Doktor Jasmin Arland, Daniel Arland, Inspektor John Rebus, Major Amelia Colvin. Nach dieser einmaligen Einführung gehen wir zu dem von uns gewählten Modus der Nennung von nur Vornamen oder nur Nachnamen über, sofern wir nicht „er/sie“ schreiben. Auch für die namentliche Ersteinführung der Figuren haben wir mehrere Möglichkeiten.
BEISPIELE (vom Anfang eines Romans/einer Story)
Person: Daniel Arland
- Erzählender Text
Daniel (Arland) warf einen Blick auf die Uhr, während er durch den Gang eilte. Verdammt, er kam schon wieder zu spät.
Oder (semi-auktorial): Arland warf einen Blick auf die Uhr, während er durch den Gang eilte. Verdammt, er kam schon wieder zu spät.
- Dialog
„Arland! Wo zum Teufel bleiben Sie?“
Daniel zuckte beim Klang der Stimme seines Chefs zusammen. „Komme schon!“
Oder: „Arland! Wo zum Teufel bleiben Sie?“
Daniel Arland zuckte beim Klang der Stimme seines Chefs zusammen. „Komme schon!“
Wenn wir den Lesenden ein Rätsel servieren wollen, können wir die Identität einer Person verschleiern, indem wir in den Szenen, die in ihrer Perspektive geschrieben sind, die Namensnennung weglassen und die Person ausschließlich mit „er/sie“ betiteln.
BEISPIEL (vom Anfang einer Szene/eines Kapitels):
„Er sah den Kopf seiner Zielperson deutlich durch das Zielfernrohr und krümmte den Finger um den Abzug. Ein Bus fuhr vorbei und nahm ihm die Sicht. Als er fort war, befand die Zielperson sich nicht mehr auf der Straße. Er wartete.“
Dadurch, dass hier der Name des Killers nicht genannt wird, wirkt er doppelt bedrohlich, denn „er“ könnte jeder sein – auch jede beliebige männliche Person, die der Zielperson im Verlauf der Geschichte begegnet. Flechten wir danach mehrere solcher Szenen ein, von denen einige auch andeuten, dass „die Zielperson“ mit „ihm“ spricht oder anderweitig interagiert, wird es besonders spannend, denn die Lesenden rätseln umso intensiver, wer „er“ denn überhaupt ist.
Wir können mit der Art der Namensnennung auch subtil andeuten, wer ein negativ besetzter Charakter ist, indem wir diese Person ausschließlich mit Nachnamen benennen und den Vornamen vollständig unter den Tisch fallen lassen. Das funktioniert aber nur, wenn wir im Gegenzug die positiv besetzten Figuren ausschließlich mit Vornamen benennen. Innerhalb der wörtlichen Rede gebrauchen wir die Anredeformen ganz normal wie man auch im Alltag spricht: Freundinnen/Freunde reden einander mit Vornamen und Du an, Fremde und Mitarbeitende siezen einander und benutzten den Nachnamen mit dem vorangestellten „Herr/Frau“ als Anrede, Leute, die ein bisschen vertrauter miteinander, aber noch nicht per Du sind, nehmen den Vornamen und „Sie“ als Anrede:
„Hallo, Daniel, wie geht es dir?“
„Guten Tag, Herr Arland. Wie geht es Ihnen?“
„Schön, Sie mal wieder zu sehen, Daniel. Wie geht es Ihnen?“
Und wenn jemand über eine andere Person spricht:
„Hast du schon das Neueste von Lisa gehört?“
„Die Meyer hat mal wieder Mist gebaut.“
„Der Alte ist heute verdammt mies drauf.“
„Herr Körner hat noch nicht angerufen.“
„Der Sieg geht in diesem Jahr an Frau Sabrina Damiani.“
Anders verhält es sich bei der Ich-Perspektive. Schreiben wir im Ich-Modus, nennen wir den Namen unserer Ich-Figur nicht. Ja, richtig gelesen: Wir nennen unser „Ich“ NICHT beim Namen, denn das wäre ein Perspektivbruch. Ausnahme: Wenn „Ich“ die Lesenden direkt anspricht, kann er oder sie sich ihnen namentlich vorstellen. (Mehr dazu in einer späteren Folge). Ansonsten erfahren die Lesenden den Namen der Ich-Person aus dem Klappentext und im Text selbst durch einen Dialog, in dem jemand anderes sie mit dem Namen anredet, oder durch ein Schriftstück, das ihren Namen trägt: „Der Brief war adressiert an Daniel Arland, Hauergasse 14. Ich fragte mich, woher der Absender meine neue Adresse kannte, denn ich hatte mich noch gar nicht umgemeldet.“ Und schon wissen die Lesenden, wie „Ich“ heißt. Alternativ kann die Ich-Figur auch ein Selbstgespräch führen, in dem sie sich selbst beim Namen nennt: „Daniel Arland, da hast du dich mal wieder ganz und gar nicht mit Ruhm bekleckert.“ Weil das aber oft aufgesetzt wirkt, ist das eine zweischneidige Sache.
WICHTIG:
Wir müssen die einmal gewählte Form der Namensnennung für unsere Figuren IMMER konsequent beibehalten, und zwar durch den gesamten Text hindurch, weil die Namensbezeichnung den Lesenden sagt, in wessen Perspektive sie sich befinden. Dies ist besonders bei der schwebenden Perspektive entscheidend, bei der innerhalb derselben Szene die Perspektive gewechselt wird. Wenn wir Daniel Arland in seiner Perspektive als „Daniel“ bezeichnen, ihn aber im nächsten Absatz plötzlich „Doktor Arland“ nennen, glauben die Lesenden, die Perspektive habe gewechselt und sind verwirrt, wenn sie feststellen, dass dem nicht so ist. Die einheitliche Form der Namensnennung in den einzelnen Perspektiven darf niemals vernachlässigt werden!
Um eine zu häufige Namensnennung zu vermeiden, sprechen wir von unserem Helden, unserer Heldin nach der namentlichen Einführung immer nur als „er/sie“. Auch wenn sich das über mehrere Absätze oder sogar ein ganzes Kapitel erstreckt. Ausnahmen gibt es nur an solchen Stellen, wo durch „er/sie“ eine Stilblüte erzeugt würde, weil sich das Personalpronomen grammatikalisch auf das Subjekt oder Objekt des vorherigen Satzes/Nebensatzes bezieht, oder wenn in einer Szene mehrere Personen anwesend sind. Um eindeutig zu unterscheiden, wer etwas sagt oder tut, und um Stilblüten zu vermeiden, müssen wir in solchen Fällen erneut zur Namensnennung greifen.
In der nächsten Folge:
Die Namensliste, Personenregister
In weiteren Folgen:
Der Charakter
Die Ausdrucksweise
Handlungsmotive
Glaubhafte Reaktionen/Handlungen
Die „Personalakte“
Die Hauptfigur und ihr Gegenpart
Nebenfiguren
Broken Hero, der „gebrochene Held“