Nachgelesen

Rezension von Maja Seiffermann

 

Heinrich Lüssy: Nachlese. Aufsätze und Vorträge (1998-2022), Wolfbach-Verlag, Zürich/Roßdorf 2022, ISBN: 978-3-906929-64-4, 162 Seiten, 25 € (D)

 

Allgemeines

Heinrich Lüssy (1943 geboren), promovierter Germanist, veröffentlicht wissenschaftliche Arbeiten, Essays sowie Romane.

Die im Folgenden besprochene Nachlese erschien 2022 und „versteht sich zum Teil als Nachtrag zu (anderen) Publikationen“.

Die Zusammenstellung der Texte ist recht zufällig und gemischt; die Inhalte reichen von Politik und Wirtschaft über Antike und alltägliche Gedanken bis hin zu Religion, Sprache und Kunst.

 

Die prägnantesten Texte des Buches

Lüssys Nachlese enthält zwar 13 Texte, alle zu besprechen, würde allerdings den Rahmen sprengen. Im Nachfolgenden wird sich auf die in den Augen der Rezensentin sechs lesenswertesten Texte beschränkt.

 

Kapitel 1: Ursprüngliches Staunen

Lüssy geht in diesem Text vor allem der Frage nach, welche Rolle das Staunen in unserem Leben spielt. Die von ihm aufgestellten Theorien regen dazu an, nachzudenken und sie auf weitere Fallbeispiele und Lebenssituationen anzuwenden.

Nach dem Lesen bereut man manchmal die Aufgabe des selbstverständlichen kindlichen Staunens. Der Autor leitet sehr geschickt vom alltäglichen Staunen zur Erschaffung der Erde und der Menschheit über.

Lüssy führt uns noch einmal vor Augen, dass wir keinen Einfluss auf das potenzielle Ende des Universums haben. Wir eignen uns die Welt an, indem wir sie menschlich machen, und uns bleibt nichts anderes übrig als zu staunen, um nicht in gewaltige Depression zu verfallen und zu fürchten, das Leben sei wegen des bevorstehenden Endes sinnlos.

An dieser Stelle zwei Zitate, die mir in diesem Text sehr gut gefallen:

„Das philosophische Staunen drückt (…) auch nicht Be- oder Verwunderung aus, sondern vielmehr ein existenzielles Erschrecken, das einen dann trifft, wenn man an die Grenze des Erfahrbaren und Sagbaren gelangt ist“ (S.9)

„In Anbetracht dessen, dass die lebendige Natur offensichtlich nicht auf den Menschen angewiesen ist, wirkt Anthropozentrismus überheblich.“ (S.11)

 

Kapitel 2: Christlicher Atheismus

Haben Sie schon einmal darüber nachgedacht, dass Beten in der reinen Form nichts anderes ist als ein Weg, Dankbarkeit und Liebe für das, was man hat, an jemanden zu richten?

Lüssy formuliert es treffend, dass „Logisch gefasst, (…)  Gott eine Chiffre (ist), um für das Unsagbare dennoch eine Sprache zu finden“ (S.18).

Gott kann demnach der Einfachheit halber auch als Notlösung fungieren, Gefühle nach oben zu richten. Beten ersetze damit also nur die Worte, die wir nicht finden, weshalb Beten nicht nur etwas für Gläubige sei.

Bewundernswert ist Lüssys Idee, das Vater Unser in seine Verse zu zerlegen und zu jedem Vers eine Begründung zu formulieren, warum er auch von einem Atheisten gebetet werden kann.

Wer etwas für Religionskritik im unkonventionellen Sinne übrig hat, sollte dieses Essay auf jeden Fall lesen.

 

Kapitel 4: Kunst erklären?

Dieses Essay schenkt allen Leser*innen eine frische Perspektive auf das Thema Kunst und wie man alternativ auf Kunst blicken könnte, anstatt immer nur den „gesellschaftliche(n) Trieb des Menschen“ (S.48) zu befriedigen, alles in Schubladen zu stecken, allem bis auf den tiefsten Grund zu gehen und ein Geschmacksurteil zu äußern.

Vielmehr sollten wir aber darauf achten, welche Reaktion(en) Kunst in uns auslöst.

Wer also wissen möchte, warum wir „Vor einem Kunstwerk so halten (sollten) wie vor einer Königin, nämlich den Hut ziehen und warten, bis sie uns anspricht“ (S.51), sollte sich dieses Essay auf jeden Fall vornehmen.

 

Kapitel 9: Ästhesie und Anästhesie

Die Auffassung, es gebe eine Korrelation zwischen Ästhesie und Anästhesie beispielsweise in der Kunst und nicht nur in der Medizin, ist definitiv ein Essay wert.

In diesem Essay beleuchtet Lüssy die Notwendigkeit, manche Themen weniger emotional zu beschreiben, mit dem Ziel, einer besseren Beschreibung.

Sein Essay zeigt aber auch auf, wie Dichtung und das Schreiben generell uns vom Schmerz befreien und über welchen Facettenreichtum unsere Sprache verfügt.

 

Kapitel 10: Der Mittelstand im Dilemma

Ist die Gesellschaft noch „geteilt“ und wenn ja, welche Vor- und Nachteile ziehen verschiedene Gesellschaftsgruppen daraus? Wie kann man den Begriff Klassenkampf deuten und warum existiert der Begriff überhaupt? Wie wertend ist diese Bezeichnung und sollten wir uns dieser bedienen?

Der Autor gibt uns in diesem etwas längeren Aufsatz eine Menge Stoff zum Verarbeiten und Diskutieren und präsentiert Theorien, die wir auf aktuelle Problematiken wie die Pandemie oder Flüchtlingsfragen anwenden können.

 

Kapitel 11: Gedächtnis und Erinnerung

Das zweitletzte Kapitel ist allein schon seiner Kürze wegen empfehlenswert. Wer sich schon oft gefragt hat, welchen Einfluss Erinnerungen auf das spätere Leben haben und warum wir nur einen Bruchteil aller Erinnerungen behalten, sollte sich dieser psychologischen und simplen Darlegung auf jeden Fall annehmen!

 

Kritik

Positiv zu vermerken ist, dass das ganze Buch sich anfühlt wie eine Reise durch Heinrich Lüssys Leben, durch die man einen Einblick bekommt, was ihn in verschiedenen Lebensabschnitten beschäftigt(e).

Neben den oben ausführlicher besprochenen Texten sind auch einige der anderen hochspannend und bieten einen Durchlauf durch die Geschichte und schenken jedem, der sich darauf einlässt, die Chance auf ein bisschen Allgemeinbildung.

Ebenfalls positiv ist, dass Lüssy für viele Sachverhalte oder Gedanken eine Formulierung hat, die man selbst nicht gefunden hätte.

Allerdings gibt es vier größere Kritikpunkte:

Erstens scheint es als würde Lüssy zu sehr an der Vergangenheit festhalten, da die meisten Beispiele und Bezüge auf Menschen zurückgehen, die seit der Antike tot sind oder jetzt der ganz alten Generation angehören. Lüssy hat in die Nachlese wenige absolut zeitlose Texte hineingenommen. Die Leser*innen müssen selbst den Bogen zur heutigen Aktualität spannen, was sich nicht immer so simpel gestaltet. Es ist zwar nichts falsch daran, sich an den Gedanken verstorbener Genies zu bedienen, bei Lüssy wird es dann aber doch ein bisschen viel.

Womöglich stelle ich die falschen Ansprüche, aber für mich sind viele der Essays nicht ausreichend gesellschaftskritisch. Vor allem, wenn es sich bei der Nachlese um die wichtigsten Essays aus seinem Leben handelt. Auch der Fakt, dass Lüssy fast bis zum Ende des Buches auf kein Zitat einer berühmten Frau eingeht oder sich auf eine weibliche Berühmtheit bezieht, lässt ihn nicht so dastehen, als verfolge er ein höheres bahnbrechendes Ziel mit seinen Texten.

Darüber hinaus halte ich die Essays für außerordentlich theoretisch; Sie Zusammenstellung der Texte ist eventuell ein bisschen zu aus dem Kontext gerissen, ein Überthema hätte dem ganzen einen Rahmen verliehen. Es gibt wenige Beispiele aus dem Alltag, und manche Texte sprengen den Rahmen, da man mit Lüssys Wissen und Interesse an bestimmten Themen eine Doktorarbeit füllen könnte[1].

Zuletzt bleibt die Anmerkung, dass Lüssys Nachlese nicht für alle geschrieben ist. Die Texte bestehen aus sehr vielen unnötig langen Sätzen. Wer Lust hat, sich auf die Texte einzulassen, wird auch sicherlich belohnt und erwirbt neue Informationen. Dennoch ist Lüssys Werk keine leichte Abendlektüre und deshalb in Maßen zu genießen.

Denn, wie sagt es Lüssy so schön?

„Ein gebildeter Mensch zeichnet sich nicht als der kompetente Experte in Sachen Kunst aus, sondern ist der zur Bildung (als Prozess) fähige und bereite Mensch.“

 [1] so wie z.B. die Analyse der Zahlen und Buchstaben in der Tora und der Bibel

 

One thought on “Nachgelesen

  1. Die Rezension von Maja Seiffermann verdient großes Lob. In der Darstellung einiger ausgewählter Texte aus der „Nachlese“ von H. Lüssy geht sie seinen philosophischen, literatur- und kunstwissenschaftlichen, politischen und pädagogisch-emanzipatorischen Gedankengängen nach. Sie zeigt Lüssys vielfältige und genaue Themenbearbeitung. Wer sich darauf einlässt, erhält jedoch nicht nur die Chance „auf ein bisschen Allgemeinbildung“, sondern auf ein tieferes Eindringen in eine umfassende Geisteswelt, in der universelle Erkenntnisse neu formuliert werden.
    So ist es nur selbstverständlich, dass der Autor u.a. auf „Menschen zurückgreift, die seit der Antike tot sind“. Aus welchem anderen Kontext heraus sollte sich der Mensch sonst in der Gegenwart verstehen? Die philosophischen und literarischen Texte sind für Lüssy zudem nicht l´art pour l´art, sondern er wendet sich aktuellen gesellschaftlichen Anliegen zu, die doch einigen Menschen unter den Nägeln brennen. So z.B. „Der Mittelstand im Dilemma“, übrigens aber auch der Text „Christlicher Atheismus, oder Wie auch ein Atheist das Vaterunser beten kann“. Zu kurz gekommen scheint mir in der Rezension Lüssys pädagogisch-emanzipatorischer Anspruch. Daher möchte ich hier die Besprechung des Textes „Begegnung“ (1998), anfügen.
    Im Text „Begegnung“, der an das Vorwort „Ist es an der Zeit, eine Entscheidung zu treffen? Philosophische Briefe von Christoph Dejung und seinen Schülerinnen und Schülern“, erschienen im Haffmanns-Verlag, Zürich 1998, anknüpft, thematisiert Lüssy, was „Schule, was Unterricht im besten Sinne sein kann“. Er gibt uns die Antwort, wie wichtig das vertrauensvolle und freundliche Lehrer-Schüler-Verhältnis ist, das gerade in der Distanz den Abstand lebendig macht. Besonders bei kurz vor dem Abitur stehenden Schülerinnen und Schülern bildet sich deren Lebensthema geistig-gärend heraus. Der Lehrer hat dabei die Funktion, den Schüler in einen Prozess des Philosophierens hineinzuführen, in derselben Weise wie es Sokrates mit seinen Schülern gelang. Es geht um Einsicht und Erkenntnis, dass es neben der Welt der „Effizienz“ und der „Macher“ eine introspektivische, geistige Welt gibt, eine Welt des Nachdenkens, in der wir uns bewusst werden, dass wir in Wahrheit nichts wissen können und in Ungewissheit leben müssen. Philosophie problematisiert „bestehende Vorstellungen, Begriffe, Definitionen“. „Philosophie eröffnet eine Kultur der Frage“ (S. 156). Lüssy meint dies als Korrektiv der Moderne, die zumeist vom Nützlichkeitsdenken geprägt ist und unsere Schulen in Dienstleistungsbetriebe umwandelt. Dieser Tendenz hält der Autor den Begriff der Bildung entgegen; Schule ist nicht primär Ausbildung, sondern Bildung. „Bildung im eigentlichen Sinn ist sich selbst Zweck und erhebt den Anspruch, der der Freiheit des Individuums anheimgegeben bleibt“ (S. 158). Lüssy steht in der Tradition von Philosophen und Schriftstellern wie Musil, Brecht, Walter Benjamin, Wittgenstein, Helmut Holzhey und hofft zu Recht, dass eine kritische Denkart dem Geist mehr Raum verschafft und den Zeitgeist in Schranken verweist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert