Von der Kunst des Prosaschreibens – Figurenzeichnung: Erschaffen glaubhafter Charaktere
Teil 7: Die Ausdrucksweise
von Mara Laue
So individuell wie der Charakter ist auch die Ausdrucksweise eines Menschen. Selbst wenn zwei Menschen dieselbe Sprache und denselben lokalen Dialekt sprechen, reden sie niemals gleich. Jeder hat bestimmte Lieblingswörter und Lieblingsfloskeln, die seine gesamte Sprechweise kennzeichnen. Der eine beginnt jeden zweiten Satz mit „Öhm, was ich noch sagen wollte …“, ein anderer redet – bedingt durch seinen Beruf als Beamter – auch privat in einem typischen „Beamtendeutsch“, eine Dritte gebraucht bei jeder sich bietenden Gelegenheit das Wort „regelrecht“, eine andere Person hängt an jeden zweiten Satz ein „… nicht wahr!“ an und der Nächste sagt immer nur „nee“ statt „nein“ und „yep“ statt „ja“. Die Beispiele sind endlos.
Hören wir den Menschen in unserer unmittelbaren Umgebung über eine längere Zeit intensiv zu, dann werden wir solche individuellen Merkmale feststellen. Geben wir also auch unseren fiktiven Figuren eine individuellen Sprechweise, desto authentischer wirken sie. Zu beachten ist dabei, dass sie natürlich wirkt und nicht aufgesetzt. Ein einziges besonderes Merkmal pro Person genügt. Außerdem sollte man diese Sprachcharakteristika nur für die Hauptpersonen anwenden (von Dialekten abgesehen), da es sonst für die Lesenden verwirrend sein kann.
Ganz besonders wichtig ist zu berücksichtigen, dass Männer und Frauen völlig unterschiedlich sprechen (dazu mehr in späteren Folgen über den Dialog), denken und empfinden. Dass Männer bis auf wenige Ausnahmen knapper sprechen und manche Dinge völlig anders ausdrücken und wahrnehmen als Frauen, klingt zwar nach Klischee, ist aber Fakt. Ebenso bewerten und gewichten sie Dinge manchmal völlig anders als Frauen.
Ein Mann würde sich zum Beispiel keine Gedanken über die Details des Kleides seiner Liebsten machen (es sei denn, er wäre Schneider oder Designer). Er findet es schön oder schrecklich, aber eine Beschreibung wie die Folgende würde ein Mann normalerweise nicht abgeben:
Ihr Kleid besaß die Farbe des Sommerhimmels. Die rosafarbenen Blüten darauf leuchteten wie Rosen und die Schleifchen an den Ärmeln verliehen ihm einen mittelalterlichen Hauch.
Ein Mann würde bemerken:
Sie trug ein rosageblümtes blaues Sommerkleid mit Schleifen an den Ärmeln, das ihr ziemlich gut stand.
Solche Dinge müssen wir beachten, besonders wenn eine Autorin in der Perspektive eines Mannes schreibt und als Autor in der Perspektive einer Frau, auch wenn man ihn oder sie nicht gerade in einem Dialog sprechen lässt. Leider wird ausgerechnet die individuelle Ausdrucksweise von vielen Autorinnen/Autoren nicht berücksichtig. Dieser Fehler findet sich besonders in den ersten Werken von Neulingen, auch solcher, die später zu Bestsellerschreibenden wurden. (Ich habe ihn in meinen frühen Werken ebenfalls gemacht, und manchmal passiert er mir noch heute.) Alle Figuren „sprechen gleich“, aber dadurch verlieren sie ein Teil ihres Profils. Deshalb sollte man von Anfang an versuchen, auf diese Unterschiede schon bei der Entwicklung der Figuren zu achten. Die Finesse kommt auch hierbei, wie so oft, mit der Übung.
In der nächsten Folge:
Handlungsmotive und glaubhafte Reaktionen
In weiteren Folgen:
- Die „Personalakte“
- Die Hauptfigur und ihr Gegenpart
- Nebenfiguren
- Broken Hero, der „gebrochene Held“