Von der Kunst des Prosaschreibens – Figurenzeichnung: Erschaffen glaubhafter Charaktere
Kluge Hinweise von Mara Laue
Teil 9: Die „Personalakte“
Für Kurzgeschichten, in denen auf Beschreibungen weitgehend verzichtet wird und die nur ein kurzes Schlaglicht auf eine einzige Episode im Leben der Hauptfigur werfen, ist für einen Roman, egal in welchem Genre, eine differenzierte und möglichst genaue Figurenzeichnung wichtig, zumindest für die Haupt- und wichtigen Nebenfiguren. Um nicht den Überblick zu verlieren und die Figuren nicht zu ähnlich zu gestalten, hat sich bewährt, zumindest in kurzer Form VORHER die wichtigsten Eigenschaften jeder Person zu notieren (mit Ausnahme solcher, die nur einen einmaligen Kurzauftritt haben oder nur selten genannt werden), um im Bedarfsfall nachschlagen zu können. Die beste Methode sind die „Personalakten“, die alle wichtigen Informationen enthalten, mit denen sie charakterisiert werden, um sie so plastisch und „real“ wie nur möglich zu machen.
Der Hintergrund für dieses Tool ist nicht nur, dass man dadurch Widersprüche vermeidet, weil man nach 10 Kapiteln vergessen hat, dass man der Hauptfigur in Kapitel 1 blaue statt braune Augen gegeben hatte. Ein sorgfältig entworfener Charakter ist als PERSÖNLICHKEIT beim Schreiben ständig im Hinterkopf präsent, und dieses Wissen beeinflusst (unbewusst) unsere Schilderung im Text, angefangen von banalen Dinge wie der Lieblingskleidung bis hin zu den Motiven für ihr jeweiliges Verhalten.
Diese Personalakten sollte man deshalb für die wichtigen Figuren des Romans anfertigen, BEVOR man mit dem Schreiben des Textes beginnt. Dadurch wird, wenn wir sie uns außerdem der Reihe nach für alle Figuren durchlesen, auch offensichtlich, wenn wir verschiedene, nicht miteinander verwandte Personen, zu ähnlich gestaltet haben. Außerdem wird die Personalakte im Verlauf der Arbeit am Roman mit jeder Information ergänzt, die wir im Text zusätzlich erfinden.
Wichtig wird die Akte, wenn der Verlag oder die Fans eine Fortsetzung oder neue Abenteuer der Hauptperson wünschen. Da zwischen dem Schreiben eines Romans und dessen Nachfolger Monate, manchmal auch Jahre vergehen, müsste man den ersten Roman nochmals vollständig lesen, um alle wichtigen Dinge über die Hauptfiguren zu erinnern. Die Personalkate kürzt das Ganze ab und ist ein wichtiges, unverzichtbares Nachschlagwerk, ganz besonders wenn der erste Band von Anfang an einen oder mehrere Nachfolger bekommen soll.
Von diesen Funktionen und Vorteilen abgesehen macht das Erschaffen der Figuren auf diese Weise einen mordsmäßigen Spaß.
So sieht der Blanko-Charakterbogen aus, den ich für meine Projekte benutzte und den ich im Bedarfsfall um weitere Punkte ergänze oder kürze:
Name
Nationalität
Geburtsdatum, Alter
Geburtsort
Wohnort/Adresse
Beruf
Aussehen:
- Größe
- Gewicht
- Haarfarbe/Frisur
- Augenfarbe
- Statur
- Physische Besonderheiten (zum Beispiel Narben)
- Bevorzugte Kleidung
Gesten
Gangart
Besondere Eigenschaften
Hobbys
Familienstand:
- Name, Alter und Aussehen des Ehepartners (falls sie im Roman eine Rolle spielen)
- Name/n, Alter und Aussehen des Kindes/der Kinder
- Verhältnis zu Partner/Partnerin und Kind(ern)
- Haustiere
Herkunft:
- Eltern
- Geschwister
- Verhältnis zu Eltern und Geschwistern
Charakter:
- Stärkster Zug (die ausgeprägteste Eigenschaft, nicht unbedingt eine Stärke)
- Schwächster Zug (die am wenigsten ausgeprägte Eigenschaft, nicht unbedingt eine Schwäche)
- Stärke(n)
- Schwäche(n)
- Ängste
Sexualleben/Beziehungen
Freunde/Freundinnen
Feinde/Feindinnen
Kernbedürfnis
Absichten/Ziele im Leben
Religion
Politische Orientierung
Ausbildung
Bedeutendes Ereignis, das ihn/sie geprägt hat
Beziehung zum Geschehen/Personen der Geschichte
(Handlungs-)Motiv(e) (Was treibt die Person im Alltag an, im Beruf, beim Hobby, im Verhalten gegenüber anderen Menschen, warum handelt sie, wie sie handelt etc.?)
Was anderen an ihr/ihm sofort auffällt
Was er/sie tut, wenn er/sie allein ist
Lebenslauf (Gemeint ist der Verlauf des gesamten Lebens in seinen wichtig(st)en Stadien, kein rein beruflicher Werdegang.)
Sonstiges
Zwar erscheinen keineswegs alle genannten Informationen später auch im Roman, aber ihre Vorab-Festschreibung trägt erheblich dazu bei, dass unsere Figuren wie lebendige „echte“ Menschen wirken, mit denen man sich lesend identifizieren kann.
Das Interview
Eine Alternative zur Akte ist ein Interview, das wir mit unserer Hauptperson und weiteren wichtigen Figuren führen, um deren Charakter und ihr Wesen festzulegen. Das Interview funktioniert wie ein richtiges Interview. Der zu charakterisierenden Figur werden Fragen gestellt, die sie beantwortet. Da sie eine fiktive Person ist, die nur in unserer Fantasie existiert, müssen wir ihren Part übernehmen. Wir sind die Figur und werden interviewt. Zu dem Zweck kann man die Fragen, die unsere Figur beantworten wollen/müssen, aufschreiben, als wenn wir Reporterin/Reporter wären und eine berühmte Persönlichkeit zu ihrem Leben befragen wollen. Am besten orientieren man sich für den Inhalt an der Personalakte und formuliert die einzelnen Stichpunkte zu Fragesätzen.
- „Herr/Frau N., wann und wo wurden Sie geboren?“
- „Verraten Sie uns Ihre Größe? Ihr Gewicht?“
- „Haben Sie Geschwister?“
- „Wie ist Ihr Verhältnis zu Ihren Eltern/Geschwistern heute und früher?“
- „Was machen Sie beruflich?“
- „Was sind Ihre Hobbys?“
- „Erzählen Sie uns von Ihrem Werdegang. Wo sind Sie zur Schule gegangen? Wo haben Sie Ihre Ausbildung/Ihr Studium absolviert?“
- „Sind Sie glücklich mit Ihrem Beruf?“
- „Wer ist Ihr bester Freund?“
- „Haben oder hatten Sie ein Haustier?“
- (…)
- „Gibt es noch etwas, was Ihnen wichtig ist und das Sie mir/unseren Lesenden/Zuschauenden/Zuhörenden mitteilen wollen?“
Diese Fragen lässt am besten ein paar Tage ruhen und prüft sie hin und wieder auf Vollständigkeit. Wenn noch etwas Wichtiges oder auch eine Kleinigkeit fehlt, ergänzen wir die Fragen entsprechend. NUR die Fragen, bitte! Die Antworten gibt die Figur zu einem späteren Zeitpunkt. Dazu haben wir drei Möglichkeiten.
- Ein Freund, eine Freundin oder ein Familienmitglied kann die Rolle der befragenden Person übernehmen und dieses Interview mit uns führen. Zu dem Zweck geben wir denen die Fragen schriftlich vor. Wir versetzen uns zum Interview in die Figur hinein und sind diese Person für die Dauer dieses Gesprächs. Die interviewende Person liest die Fragen vor, die wir in der Ich-Form beantworten: „Geboren wurde ich am 27. Mai 1987 in Wilhelmshaven. Mein Vater hat mir oft erzählt, dass genau in dem Moment meiner Geburt draußen der schönste Regenbogen erschien, den er je gesehen hat.“ Und schon beantwortet die Figur nicht nur die Fragen, sondern erzählt noch die eine oder andere Anekdote dazu. Vielleicht fallen der Interviewerin/dem Interviewer auch noch weitere Fragen ein, die sich aus den Antworten der Figur ergeben. Am besten zeichnet man dieses Gespräch mit einem Diktiergerät, einem Kassettenrecorder oder mit dem Smartphone auf und schreibt die Antworten später als „Personalakte“ auf.
- Wir geben die Antworten schriftlich, wenn wir niemanden für die Befragung rekrutieren können oder wollen. Heutzutage laufen viele reale Interviews per E-Mail ab. Medienleute schicken den Objekten ihrer Begierde den Fragenkatalog und diese schreiben die Antworten dazu, ehe sie den beantworteten Fragekatalog zurückmailen. Auch hierbei antworten wir in der Ich-Form, denn wir SIND unsere Figur während des ganzen Interviews. Um genügend Abstand zu gewinnen, sollten zwischen dem Erstellen des Fragekatalogs und der Beantwortung mindestens zwei Wochen liegen. Danach fällt es uns leichter, bei den Antworten unserer Figur und nicht deren Schöpferin/Schöpfer zu sein.
- Wir setzen uns in der Person der Hauptfigur ins Gesprächszimmer einer Psychiatrie (natürlich nur in der Fantasie) und erzählen jemandem vom dortigen Fachpersonal – wieder in der Ich-Form – alles aus unserem Leben als literarischer Figur, was man, angelehnt an die Personalakte, wissen muss, um sich ein Bild von der Figur zu machen. Dieses Gespräch kann als Tonaufnahme aufgezeichnet oder schriftlich verfasst werden.
In der nächsten Folge:
Die Hauptfigur und ihr Gegenpart
In weiteren Folgen:
Nebenfiguren
Broken Hero, der „gebrochene Held“