Poetische Potenzen
Rezension von Thomas Rackwitz
Steffen Marciniak: Prinzenverstecke, Gedichte, Verlag der 9 Reiche, Berlin 2023, ISBN 978-3-948999-09-4, 32 Seiten, 125×190 mm, Fadenbindung, illustrierte, nummerierte und signierte Ausgabe. Euro 9,00.
„Prinzenverstecke“ heißt der neue Gedichtband von Steffen Marciniak. Er erschien im Laufe des Jahres 2023 in der Lyrik-Edition NEUN. Hier ist der Name Programm. Die Zahl 9 steht im Mittelpunkt, auch des zugehörigen Verlags der 9 Reiche. Nicht ganz zufällig fiel Marciniaks Reihen-Debüt auf die 9. Wie die anderen schmalen Bücher der Reihe ist auch dieses kunstvoll gestaltet und mit mehreren Linolschnitten des Künstlers Steffen Büchner versehen. Marciniaks Hang zur Form lässt sich nicht nur an der äußeren Gestaltung des Buches ablesen, sondern auch an der Form der Gedichte. Insgesamt beherbergt „Prinzenverstecke“ 27 Gedichte, die sich auf 3 Zyklen zu je 9 Gedichte unterteilen.
Schon im ersten Teil, der sich vordergründig um existente und phantasierte Blumen dreht, ist die Zahl 9 als Sinnbild der Vollkommenheit formal betrachtet von Bedeutung. Die Gedichte bestehen aus drei Strophen zu je drei Versen, durchtränkt von Binnenreimen und Alliterationen. Und diese Verse haben es in sich. Oft werden hier scheinbare Gewissheiten konterkariert, wenn das Übernatürliche ins Bild gerät, so etwa im Gedicht „Feuerblume“. Dort „gleitet“ die Lava „langsam“ den „erschöpften Berg“ hinab. Auf der zweiten Sinnebene wird deutlich, dass es sich an vielen Stellen im ersten Zyklus um erotisierende Gesten handelt. Allerdings bleibt es bei einem einseitigen unterwürfigen Versuch, mit dem lyrischen Du Kontakt aufzunehmen bzw. es aus seinen Verstecken zu locken. Erst im letzten Vers des ersten Zyklus kommt es zur Verschmelzung des lyrischen Ich mit dem lyrischen Du („Wir umfangen uns beide“).
Eine ähnliche Verletzung scheinbarer Sicherheit findet sich im Gedicht „Meeresblume“. Hier umschäumt Gischt „die Grotten der Götter“, und zwar in den „abgründigen Meerestiefen“. Neben der gehobenen Sprache („Demanten“, „entschwunden“) weiß Marciniak mit Neologismen wie „cirruskraus“ (aus „Wolkenblume“) zu überraschen. Obendrein sollte die expressionistische Emphase („Ein Sturm rollt“) nicht unerwähnt bleiben, die zwischen den Versen hindurchschimmert, wenngleich sie vom Wesen her eine Generation früher zu verorten sind und an Stefan Georges Kreis erinnern. Obwohl sich Parallelen zu George nicht von der Hand weisen lassen (wie ein Verweis im Gedicht „Acht Winde“ suggeriert), sind es Marciniaks Einschübe, die diesen Versen eine Eigenständigkeit zugestehen.
Auch im zweiten Zyklus, in den „Ziffermythen“, wie der Name es bereits vermuten lässt, geht es um Zahlen, allerdings inkrementell. Während die ersten Verse sich um die biblische Schöpfungsgeschichte drehen, verlagert sich das Setting im zweiten in die griechische Mythologie. Passenderweise weist das Dioskuren-Gedicht als einziges in diesem Zyklus keine Strophen auf („nie mehr getrennt“). Es folgen weitere bildstarke, sinnliche Gedichte, in denen Marciniak es schafft, seine Verse zum Leuchten zu bringen, die auch synästhetische Untermalungen finden. Insbesondere „Drei Orangen“ fällt hier positiv ins Gewicht. Je mehr Zahlen in Spiel kommen, desto offener gestaltet sich die darin beschriebene Welt („Wir Elemente verschmelzen im Universum“). Trotz aller Weitläufigkeit und unterschiedlichster Mythologien, die das Rückgrat dieser Gedichte bilden, taucht ein Motiv wiederholt gedichtübergreifend auf: die Einsamkeit des Betrachters.
Im dritten und letzten Zyklus geht es in den hohen Norden und in den Sonnenuntergang. Auffällig ist hier, dass den Gedichten eigene QR-Codes beigegeben sind. Diese wiederum führen zu verschiedenen Symphonien, die die Musikalität („Nordlauschen“) der Verse nochmals unterstreichen. Waren die Gedichte im ersten Zyklus voll Hoffnung, im zweiten teilweise hymnisch, ist der Grundton im letzten Zyklus elegisch, ja geradezu vergiftet morbid. Es sind unwirkliche Schauplätze, in denen man die Verwesung regelrecht riechen kann: „In das faulige Seegrashaar der Hexe Kalma.“ Im letzten Gedicht des Zyklus verlässt Marciniak den traumwandlerischen, mythologischen Pfad der Winterländer und findet sich mit „Ukrainische Gebete“ auf dem tagesaktuellen, politischen Schlachtfeld wieder. So schließt sich der Kreis, denn Gebete sollen vor allem zweierlei: nicht auf taube Ohren stoßen und die Hoffnung (des Anfangs) vervielfachen. Und das sei auch dem Autor dieses bemerkenswerten Gedichtbandes gewünscht.
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