Nahrung für die Nerven
Geschichte von Stefan Mettler
Ihren Namen kannte ich, noch bevor ich sie im Unterricht hatte. Mit gelber Kreide geschrieben, da, an der Tafel im Lehrerzimmer stand er, da, wo die Namen der Dauererkrankten standen. Später dann bekam ich sie in Englisch, sie war in der Neun. Sie trug blaue Kleider. Auch ihre Tasche war blau und ihre Federmappe und alles. Am Ende des ersten Halbjahres stand sie in jedem Fach eins. Einen Monat später landete ihr Name wieder an der Tafel.
Als sie wiederkam, war sie genauso dünn wie zuvor, konnte kaum ihre Tasche tragen. Eine Klassenkonferenz entschied, dass sie nichts mitzubringen brauchte. Keine Materialien. Keine Bücher. Sie kam jeden Tag. Mit einer leeren Tasche.
„Wie war meine Beteiligung?“ Das fragte sie mich nach jeder Stunde.
„Ausgezeichnet“, antwortete ich, „besser geht’s nicht…“
Sie konnte nicht anders. Sie musste fragen. Und ich antwortete, weil ich Lehrer war und Lehrer doch auf so eine Frage antworteten.
Am Ende der Neun musste ich die Gruppe wieder abgeben. Nur ihren Namen sah ich ab und zu an der Tafel. Zwei Jahre später aber landete sie in meinem LK. Sie war dünn wie immer. „Wie war meine Beteiligung?“, fragte sie mich wie immer. Und wie immer war meine Antwort: „Ausgezeichnet. Besser geht’s nicht.“
Kurz nach den Herbstferien stand ihr Name wieder an der Tafel die inzwischen keine echte Tafel mehr war, sondern eine virtuelle in einem Moodle-Ordner. Der LK plante, ihr etwas zu schenken. Aber das Ganze wurde mit wenig Enthusiasmus vorangetrieben.
„Wir schenken ihr“, sagte einer der Schüler, der etwas dicklicher war, „einfach was zu essen. Irgendwas muss sie doch essen wollen. Man muss nur das Richtige finden. Eigentlich will jeder essen…“
Aber niemand ging darauf ein.
Schließlich kaufte man eine breite Vase, vielleicht eher eine Schale als eine Vase, aus blauem Glas, blau war schließlich ihre Lieblingsfarbe. Aber die Schüler konnten sich nicht entscheiden, wer das Geschenk überbringen sollte. Und bevor es klar war, war sie schon wieder da. Dennoch wollte man ihr die Vase geben. Die Kurssprecher überreichten ihr es kurz vor dem Schellen. Sie packte es aus. Und sie schien sich zu freuen, jedenfalls tat sie so. Dann gongte es, es war die letzte Stunde, und alle verließen schnell den Raum. Nur sie war noch da. Mit ihrer Vase.
„Könnte ich die hier irgendwo in der Schule lassen?“, fragte sie.
„Aber es ist doch dein Geschenk.“
„Ich kann ja noch nicht mal meine Tasche tragen“, sagte sie.
Jetzt erst sah ich, wie ihre Arme zitterten, die Vase in ihren Händen haltend. Ja, ihr ganzer Körper schien zu zittern.
„Ich hole sie ab, wenn ich sie tragen kann.“
„Es war“, sagte ich, „keine böse Absicht von den anderen.“
„Ich weiß.“
Sie biss sich auf die Lippen, als hätte sie etwas gesagt, was die eigenen Erwartungen nicht erfüllte.
„Komm mit“, sagte ich, nahm die Vase und ging voran ins Lehrerzimmer. Es war nach der siebten Stunde und kein Kollege anwesend.
„Wo stellen wir die jetzt nur hin?!“
Schließlich platzierte ich sie auf einem der Tische unserer Tischgruppe. Zwischen Stapel von Unterrichtsmaterialien der Kollegen, Schulbüchern, Schachteln mit Teebeuteln usw.
„So, hier steht sie jetzt. Besser geht’s wohl nicht…“
„Nein“, antwortete sie, „Besser geht’s nicht.“
In den nächsten Wochen wurde sie dünner. Und im neuen Jahr kam sie nicht. Dann war sie auf einmal wieder da, zu schwach, um ihr Geschenk mitzunehmen, und wieder weg.
Ich dachte daran, ihr diese Vase zu bringen. Oder einen der LK-Schüler zu fragen. Aber dann kamen die Abiturklausuren. Und ein Kollege fiel aus, und ich übernahm zwei neue Lerngruppen. Die Vase blieb auf dem Tisch. Kein Kollege interessierte sich dafür. Es stand so viel anderer Kram da herum.
Es war im April. Ich trug gerade eine Arbeit ein, als der Stufenleiter hereinkam, zur Tafel ging, den Schwamm nahm, ihren Namen auswischte und genau an diese Stelle eine Karte hängte. Eine Todesanzeige. Ich wusste, es war ihre Todesanzeige.
Ich trat näher und schaute sie mir an.
„Ja, ja“, sagte der Stufenleiter, „ich bin zu dick und keiner liebt mich.“
Ich schwieg.