Nah am Abgrund
Geschichte von Christiane Portele
Die Birke krallt sich mit ihren Wurzeln ins Gestein. Nutzt jede Spalte, jede Fuge. Sie steht ganz oben, ganz vorne, da, wo die Klippe ins Tal bricht. Direkt am Abhang. Sie ist klein, knorrig, nicht wie die hohen, schlanken Schwestern im Tal. Dort an der Kante herrscht eine eigene Thermik. Sie trotzt den Böen, den Aufwinden, den Stürmen, die über die Hochebene fegen.
Wann immer Surra Zeit findet, kommt sie hier hoch, lehnt ihren Rücken an den kurzen Stamm, lässt die Beine über die Kante baumeln und ist sich bewusst, dass es nur einer kleinen Bewegung bedarf, um hinabzustürzen. Ein Sturz aus dieser Höhe wäre tödlich. Gäbe es einen schöneren Tod als diesen kurzen Moment der absoluten Freiheit und Schwerelosigkeit während des Fallens zu erleben, in der Gewissheit, dass danach alles vorbei wäre. Unwiderruflich! Danach einfach nur Ruhe. Ruhe und Frieden. Und trotzdem hindert sie etwas daran, diese eine kleine Bewegung auszuführen. Es genügt ihr, hier zu sitzen, die Weite in sich aufzusaugen, die Verschwommenheit des dunstigen Horizonts zu dulden und zu wissen, sie könnte sich fallen lassen. An keinem anderen Ort kommt sie einem Gefühl von Frieden so nahe wie hier.
Manchmal umarmt sie die Birke, streichelt ihre vom Wind verkrüppelten Äste, redet ihr gut zu. Surra sagt ihr, dass sie stark ist, dass sie eine Schönheit ist, auch wenn man das von außen nicht unbedingt sieht. Ihr Ächzen und Stöhnen sind ihr Antwort genug. Sie weiß, dass sie sie versteht. Sie sind seelenverwandt, sie und die Birke.
Wenn sie nicht hier oben sitzt, ist sie meist im Hospiz. Nicht, weil sie einen Angehörigen besucht, sie arbeitet dort. Mit den Todgeweihten macht Surra Musik, die sie ihre Schmerzen und ihre Angst vergessen lassen, wenigstens für eine kurze Zeit. Sie erinnert sich an Frauke. Wenn ihre Schmerzen so stark wurden, dass nur Opiate geholfen hätten, bat diese sie, mit ihr zu trommeln. Frauke erklärte ihr, sie wolle die wenige Zeit, die ihr noch bliebe, nicht betäubt verbringen. Das Trommeln, der Rhythmus, die Gleichmäßigkeit der Schläge ließen den Schmerz auf ein erträgliches Maß schrumpfen. Fraukes Hände wurden schwielig, ihre Finger bekamen Blasen. Aber lieber habe sie Schmerzen des Lebens, als die üblichen Schmerzen des Todes. Äußerlich gekrümmt, war Frauke innerlich aufrecht wie kaum ein anderer Mensch, den sie kennt.
Jedes Mal, wenn einer der Menschen stirbt, zu denen sie eine Verbindung aufgebaut hat, quält Surra sich den schmalen, steilen Pfad hinauf, der um den Felsen herum zur Hochebene führt, und setzt sich mit dem Rücken an den Stamm ihrer Birke. Lässt den Blick in die Weite schweifen, saugt sie in sich hinein und durch sich hindurch. Lässt mit der Weite auch ihre Verbindung zu der Person aus sich hinausströmen, die sie an den Tod verloren hat. Loslassen will gelernt sein. Sie muss loslassen, immer und immer wieder. Die Menschen, die sie im Hospiz kennenlernt, begleitet, liebgewinnt, sterben unweigerlich. Jedes Mal.
Warum sie, ausgerechnet sie, im Hospiz anfangen wolle, wurde sie von einer Bekannten gefragt, als sie sich dort beworben hatte. Sie habe doch selbst genug Verluste erlitten, warum sie sich das antun wolle? Surra hatte nur leise gelächelt. Wenn sie sich mit dem Leid anderer beschäftigte, hatte sie gehofft, konnte sie vielleicht ihr eigenes vergessen. Also verwendet sie alle Energie darauf, die Menschen im Hospiz liebevoll zu begleiten. Ihnen ihre letzten Wochen, manchmal nur Tage durch ihre Musik erträglicher zu machen. Wenn sie jedoch oben am Stamm der Birke sitzt, der verkrüppelten, kleinen, sturmgebeutelten, dann ist sie plötzlich auf sich selbst zurückgeworfen. Sich selbst zu entkommen, realisiert sie dann, ist ihr nicht möglich. Solange sie sich mit ihren Wurzeln im Felsen festkrallt, hält sie dem Ruf der Tiefe stand. Und haben wir dort oben, dort, wo die Klippe ins Tal bricht, nicht trotz der schweren Bedingungen eine unglaubliche Aussicht? Können wir nicht aufgrund unserer schwierigen Situation jeden schönen Augenblick um so tiefer genießen? Diese Birke ist ihre beste Freundin.