Mara Laue: Von der Idee zum fertigen Text VSS Verlag

Von der Kunst des Prosaschreibens – Das Setting

Kluge Hinweise von Mara Laue

Gestalten des Handlungsortes

Das schöne neudeutsche Wort Setting (engl. = Umfeld, Kulisse, Hintergrund, Schauplatz) bezeichnet den Ort und das Umfeld, in dem unsere Handlung stattfindet, also nicht nur das Land und die Stadt, in der sie spielt, sondern auch das persönliche Milieu der handelnden Figuren. Bei Kurzgeschichten kann beides vernachlässigt und sogar völlig weggelassen werden, sofern das Thema sich nicht auf einen bestimmten Ort oder ein persönliches Umfeld bezieht oder für die Handlung unerlässlich ist. Bei Novellen und Romanen ist die Nennung und Beschreibung gerade auch der Handlungsorte bis zu einem gewissen Grad wichtig. Bei dem Genre „Love & Landscape“ – einem Subgenre des Liebesromans – lebt die Handlung teilweise von der detaillierten Beschreibung der (exotischen) Schauplätze, die als Stimmungsträger dienen.

Entgegen der Meinung vieler Kolleginnen und Kollegen bin ich nicht der Ansicht, dass man jeden Ort, den man beschreibt, persönlich besucht haben muss, um ihn authentisch darstellen zu können. Im Zeitalter des Internets kann man nahezu jeden Stadtplan, auch von kleineren Dörfern, in einer Suchmaschine unter dem Stichwort „Stadtplan X“ aufrufen. In der Regel hat man die Wahl zwischen reinem Kartenmaterial wie auf jedem gedruckten Stadtplan und der Darstellung als Satellitenaufnahme, die zusätzlich die Häuser und die Landschaft zeigt. Bei entsprechend gewählter Vergrößerung kann man auf diese Weise sogar auf die Terrasse und den Balkon jedes einzelnen Hauses blicken. Für die meisten authentischen Ortsbeschreibungen reicht das völlig aus. Dank des Programms „Streetview“ (in die Stadtplandarstellung integriert) ist es sogar möglich, bei entsprechend eingespeisten Städten virtuell in die einzelnen Straßen zu gehen und sich darin umzusehen, als wäre man persönlich vor Ort.

Sollte erforderlich sein, Details zu beschreiben, können wir von diesen Mitteln Gebrauch machen. Schließlich hat nicht jeder Mensch die Möglichkeit, mal eben nach New York zu jetten oder eine mehrtägige Reise nach Berlin zu unternehmen, um dort Lokalrecherchen für einen Roman durchzuführen. Selbst im Zeitalter von Billigflügen und Last Minute Angeboten bleibt das eine kostspielige Angelegenheit. Das gilt oft auch für Orte im Inland. Jeder Aufenthalt dort kostet Fahrgeld, Unterkunft und Verpflegung für mindestens zwei bis drei Tage. Interviewt man verschiedene Leute vor Ort, mit denen man Termine vereinbart hat, kann es auch eine Woche und länger werden.

Falls alle Stricke reißen, kann man sich immer noch der dichterischen Freiheit bedienen. Das berühmteste Beispiel dafür ist Sherlock Holmes’ Wohnung in der Baker Street 221B in London. Die Adresse existierte nicht zur Zeit von Arthur Conan Doyle, dem geistigen Vater des Detektivs, wohl aber gab es die Nummer 221. Inzwischen ist in diesem Gebäude das Sherlock Holmes Museum untergebracht, das Ende der 1980er Jahre offiziell in Nummer 221B umbenannt wurde.

Eine Ausnahme bildet die Regio(nal)literatur (siehe nächste Folge). Die in der Regioliteratur beschriebenen Orte sollen einen klaren Wiedererkennungswert für die Lesenden besitzen. Die im Roman/der Geschichte genannten Straßen, Lokale, Sehenswürdigkeiten sollen darin so beschrieben sein, dass die Lesenden sie anhand der Beschreibung im Buch an ihren realen Standorten wiederfinden. Das ist das primäre, genretypische Kennzeichen der Regioliteratur. Auch sollten sprachliche Besonderheiten berücksichtigt werden. Zum Beispiel der ganztägige Gruß „Moin!“ an Teilen der Nordseeküste oder dass man in Berlin Sonnabend sagt, nicht Samstag. Hier kann eine Recherche vor Ort erforderlich sein, um die Authentizität zu gewährleisten.

Wir sollten uns auch nicht abschrecken lassen, wenn ein Verlag oder die Auslobenden eines Literaturpreises für einen Roman oder eine Kurzgeschichte einen „persönlichen Bezug“ zu dem von uns gewählten Ort verlangen. Solange für eine Wettbewerbsteilnahme nicht erforderlich ist, dass wir entweder in der betreffenden Region wohnen, arbeiten oder geboren sind und das auch nachweisen müssen, dürfen wir in diesem Punkt gern schwindeln (auch wenn man das grundsätzlich nicht tun sollte). Der Grund für diese Forderung ist, dass die meisten Verlage und einige Lesende der irrigen Meinung sind, man müsse, um einen Ort, eine Region authentisch beschreiben zu können, entweder dort leben, gelebt haben oder sich oft dort aufhalten, zum Beispiel regelmäßig Urlaub machen.

Das ist eine Illusion. Mit guter Recherche, zu der auch das Lesen von Reiseberichten gehört, und einem einmaligen, intensiven Besuch der betreffenden Orte kann man, notfalls unterstützt von im Internet erhältlichen Informationen, auch Städte und Gegenden authentisch beschreiben, die man nur einmal oder außer vom PC-Bildschirm aus noch nie besucht hat. Kennt man die Gegend tatsächlich persönlich, erleichtert das zwar die authentische Beschreibung, zwingend erforderlich ist sie aber in den seltensten Fällen, sofern es sich um reine Ortsbeschreibungen handelt.

Das Wichtigste an der Wahl des Settings/des Ortes ist, dass dieses Umfeld für unsere Geschichte/unseren Roman stimmig sein und vor allem für die Hauptfiguren passen muss. Ein partysüchtiger Jetsetter würde sich kaum (freiwillig) in einem Haus auf dem Land niederlassen, wo Fuchs und Hase sich „Gute Nacht!“ sagen. Eine Autoverfolgungsjagd wirkt in einem Wald unglaubwürdiger und weniger spannend als in einer Stadt oder auf der Autobahn. (Sollte sie aus dramaturgischen Gründen tatsächlich im Wald stattfinden, so muss es dafür eine gute Begründung geben.) Die graue Maus aus der Buchhaltung wird kaum ein Haus in der Schickimicki-Gegend ihrer Stadt kaufen. Und ein Seemann, der sich zur Ruhe setzt, wird nicht ins Gebirge weit weg vom Meer ziehen. Tut er es dennoch, muss das schlüssig begründet werden (zum Beispiel mit einem Trauma, durch das er den Anblick des Meeres nicht mehr erträgt.)

Gerade bei Romanen ist wichtig, sich vorher Gedanken darüber zu machen, wo die Handlung spielen soll. Eine Story, die im Kreis der „oberen Zehntausend“ angesiedelt ist, passt nicht in ein noch so idyllisches Dorf. Ein Mord im Rotlichtviertel passiert garantiert nicht im exklusivsten Teil der Stadt, weil es dort keine Rotlichtviertel gibt. Achten wir also immer darauf, dass unsere Handlung und unsere Personen in die Umgebung passen, die wir für sie gewählt haben.

Um die Atmosphäre besser schildern zu können, kann man (Profis tun das oft) nach ähnlichen Lokalitäten in der eigenen Umgebung oder am Urlaubsort suchen, sie fotografieren und sich von diesen Fotos inspirieren lassen. Falls wir nicht besonderen Wert auf reales Lokalkolorit legen (müssen), dürfen wir gern unserer Fantasie freien Lauf lassen. Aber Vorsicht! Viele Lesende prüfen unsere Schilderungen vor Ort oder im Internet akribisch nach. Ertappen sie uns bei einem Fehler oder allzu ausufernder „dichterischer Freiheit“, gibt es „Schelte“ in Form von negativen Rezensionen.

Kommen wir zu dem wichtigen Punkt, wie wir die Örtlichkeit beschreiben, in der unsere Geschichte oder eine Szene daraus spielt. Auch hier gilt, die Gegend so lebendig wie möglich darzustellen. Bei der Beschreibung des Settings sollten wir alles weggelassen, was nicht unbedingt erforderlich ist. Der Rest wird nach dem Prinzip „Show, don’t tell!“ geschildert (siehe frühere Folgen dieser Serie). Sprechen wir die Sinne der Lesenden an. Teilen wir ihnen mit, wie sich der Ort anfühlt, wie er riecht, was man dort hört (nicht nur sieht) usw. Malen wir ein lebendiges Bild, und betten es – wenn möglich (und das ist es fast immer) – in eine Handlung ein.

„Sie ging über die sonnenbeschienene Ebene, auf der bunte Blumen wuchsen. Es wehte ein leichter Wind.“ Dies ginge gut für eine Kurzgeschichte. In einem Roman schreiben wir besser etwas in dieser Art:

„Die Sonne schien warm auf ihr Gesicht, und die Grashalme kitzelten ihre nackten Waden. Der Duft von Mädesüß erfüllte die Luft und mischte sich mit dem Odeur von Schafgarbe und Beifuß. Zwischen den Kräutern leuchteten hier und da gelber Löwenzahn und roter und weißer Klee. Ein leichter Wind flüsterte im Gras. Vom Waldrand her erklang der Ruf eines Kuckucks.“

Hier riechen wir die Blumen, fühlen die Sonne auf unserer eigenen Haut und hören den Kuckuck. Jedoch enthält diese Schilderung einen Fehler: Beifuß und Löwenzahn blühen nicht zur selben Zeit. Wenn der Beifuß blüht und duftet (Juli bis September) ist der Löwenzahn längst verblüht (April bis Mai). Und auch Mädesüß blüht erst, wenn der Löwenzahn als Pusteblume längst mit dem Winde verweht wurde (Juni bis August). Diesen Fehler habe ich zu Demonstrationszwecken eingefügt, um zu zeigen, dass man auch auf solche scheinbaren (!) Kleinigkeiten unbedingt achten müssen. Was wir beschreiben, sollte immer sachlich korrekt sein, denn unter unserem künftigen Lesepublikum sind IMMER Leute, die die „Wahrheit“ kennen und uns von unserer dichterischen Freiheit (oder mangelnder Recherche) „verarscht“ fühlen.

Dasselbe Vorgehen gilt für die Beschreibung von Räumen.

„Der Wind blähte die farbenfrohen Chiffongardinen und ließ sie wie Schmetterlingsflügel flattern. Einer dieser Flügel strich über die Tastatur des Klaviers neben dem Fenster, während der andere sich um den fünfarmigen Kerzenleuchter aus massivem Zinn wickelte, der auf dem Beistelltisch stand.“

Nüchterne Aufzählungen heben wir uns für nüchterne Orte auf:

„Ein Klappbett mit einer ausrangierten Militärdecke darauf, ein schmaler Campingtisch, ein Plastikstuhl und eine an die Wand gedübelte Latte, die ein Regal ersetzte, waren die einzigen Möbel in diesem Loch.“
„Nackte Felsen, dazwischen Sand und weit und breit kein noch so winziger Flecken Grün. Trostlos.“

 

In der nächsten Folge:

Ortsbeschreibung in der Regionalliteratur

 

In weiteren Folgen:

„Fremde“ Welten und Subkulturen im realen Umfeld
Titelfindung
Das Exposé
Manuskriptnorm und Verlagsanschreiben

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