Gibt es einen „Dr. rer. pop.“? Nein. Aber ich weiß einen, an den er verliehen werden könnte.
Gelesen und besprochen von Dieter Feist
Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging. Von Punk zu NDW. Ventil Verlag, Mainz 2024. Broschur mit Abbildungen, 402 Seiten, 25 Euro
Mehrmals im Monat erreichen das Blog-Magazin zugetextet E-Mails von Verlagen, die gerne ihre Neuerscheinungen besprochen haben möchten. Es sind nicht die großen Verlagskonzerne – die lancieren ihre Prominenten in die Großfeuilletons und die vielen anderen in die Massenmedien – und das ist gut so. Auf diesen Strohfeuer-Markt bin ich herzlich wenig scharf. Es wäre mal interessant festzustellen, wie viele Bücher aus den Top-five der „Spiegel“-Bestsellerliste nach einem Vierteljahr in den Ramschkisten von Woolworth enden.
Es ist ähnlich wie im Musikbetrieb: die interessanten Entdeckungen macht man bei kleineren Labels.
Der zugetextet-Herausgeber (um den Faden wieder aufzunehmen) fragt dann in der Redaktion, wer denn Lust hätte, dieses oder jenes Buch zu besprechen. Ungefähr alle zwei Monate landet dann eines bei mir und ich freue mich auf neue Entdeckungen.
Auffällig viele dieser Bücher stammen aus dem Ventil Verlag. Das liegt an der schönen Popkultur-Linie, die sie dort pflegen und für die ich inzwischen ein richtiges Faible entwickelt habe.
„Wäre das nicht wieder etwas für unseren musikaffinen Redaktionskollegen“, schreibt der Herausgeber in seiner Rundmail, wenn die „Ventiler“ wiedermal ein Buch bewerben. Gerne. Her damit! Es ist drei, vier Wochen her, da lautete der letzte Satz meiner letzten Buchbesprechung: „Und @Ventil Verlag: Ich bin schon gespannt auf das nächste Buch aus Eurer Musiksparte, das mir unser Chefredakteur zuschickt.“
Das liegt nun vor mir: Frank Apunkt Schneiders „Als die Welt noch unterging“.
Erstes Herumblättern.
Aber halt mal…! Das ist ja gar keine Neuerscheinung! Die vierte Auflage ist das schon, und ich muss suchen, bis ich im Kleingedruckten das Ersterscheinungsjahr entdecke: 2007. Satte siebzehn Jahre ist das her und es handelt sich auch nicht um eine „völlig neu überarbeitete Ausgabe“, wie es immer so schön ausgedrückt wird, nicht einmal ein aktuelles Vorwort gibt es. Neu ist, entnehme ich der Website des Verlags, die Farbe des Covers.
Seit 2007 ist das Buch diverse Male besprochen und zitiert worden, da muss ich nicht meinen Senf auch noch dazugeben. Wenn ich also jetzt, hier und heute das Neue an dieser Ausgabe würdigen soll, geht das ruckzuck: „Der blaue Umschlag ist gut gelungen und sieht besser aus als der frühere; der war von einem ungesunden Lindgrün“. Fertig ist die Buchbesprechung.
Siebzehn Jahre, also wirklich! Ein bisschen ungehalten war ich schon, muss ich zugeben.
Aber nun liegt das Buch doch schon mal vor mir, kommt vom Ventil und geht um Popkultur. Natürlich kann ich nicht widerstehen.
Zuerst, wie immer, die Am-Daumen-vorbei-Methode. Guck mal, gibt Bilder! Kenne ich da wen? Ich blättere vor und zurück, lese mich da und dort fest. Interessant.
Interessant!
Ich ging dann nochmal systematischer und per Inhaltsverzeichnis vor, und machte ein paar Entdeckungen, die mich veranlassten, doch mehr als einen Satz über das Buch zu schreiben. Siebzehn Jahre, was soll’s?
Also:
Erstmal von außen: Paperback, Schülerzeitungslook, als das Layout noch aus echten Papierschnipseln zusammengeklebt wurde (da wurde der Autor gerade geboren); was noch fehlt, ist der Letraset-Charme (weiß noch jemand was das ist: Letraset?). Die Abbildungen sind gelungen antikisierter Fotokopie-Standard.
Was waren das doch für Zeiten!
Ich habe angebissen.
Weitere Recherche.
Wer ist Frank Apunkt Schneider? Neben einer stilrein schlechten Fotokopie mit seinem Portrait auf Seite vier ist zu erfahren, dass er 1969 geboren, „unfreier Künstler“ und „selbsternannter Pop-Theoretiker“ ist. Als solcher hat er auch ein Buch mit dem Titel „Deutschpop halt’s Maul – für eine Ästhetik der Verkrampfung“ geschrieben. Vielversprechend. Vielleicht sollte ich es mir besorgen.
Schneider tritt auch bei Lesungen und Diskussionsrunden auf und betreibt in Bamberg einen Plattenladen. Gar nicht weit weg von mir, vielleicht sollte ich mal…
Wofür wohl das „Apunkt“ steht?
Egal. Je mehr ich in diesem Buch herumlese, desto besser gefällt es mir.
Schau einer an, ein Punk-Historiker, ein Neue-Deutsche-Welle-Soziologe. Tatsächlich ist die Auseinandersetzung mit den einzelnen Themen ernsthaft, nicht aber der Sprachduktus; der ist schnoddrig, klingt höchstpersönlich und erlaubt sich durchaus Wertungen.
Das zeigt sich schon bei der klärenden Vorarbeit. Was ist das denn, die „Neue Deutsche Welle“? Zur Definition scheinen dem Autor „enge, formalistische, sozusagen „stilkritische“ Kriterien nicht geeignet.“ Er hält sich lieber gefühlsmäßig an ein „freilich verwackeltes Vorstellungsbild“, unter anderem deshalb, weil sich „keine Kriterien finden lassen, auf die sich alle mit allen einigen können, und damit geht das Geschrei erst recht los.“ Außerdem, findet er, „sind trennscharfe Kriterien eine bildungsbürgerliche Coffeetable-Idee.“
Schön ausgedrückt. Finde ich auch. Weil ich meine eigenen Erfahrungen habe mit bildungsbürgerlichen Vorstellungen. Im Allgemeinen.
Im Besonderen aber habe ich von der Neuen Deutschen Welle herzlich wenig Ahnung und muss davon ausgehen, dass ich es mit einer sehr persönlich gefärbten Abhandlung zu tun habe.
Ist aber nicht so. Und dann doch wieder. Also was?
Frank Apunkt Schneider ist ein offenbar persönlich betroffener Pop-Konsument, der als solcher eine historische Soziologie, eine soziologische Historie der Neuen Deutschen Welle geschrieben hat. Und das kenntnisreich, hellsichtig und – scharfzüngig.
Es ist keine… oder doch? – kann man das so bezeichnen? – wissenschaftliche Abhandlung?
Schon der Anhang… eigentlich kann man den Umfang von weit mehr als einem Drittel des Buchs kaum noch als „Anhang“ bezeichnen… Ab Seite 234 beginnt ein detailversessenes Kompendium mit ausführlicher Bibliografie und einer atemberaubend peniblen Auflistung aller Tonveröffentlichungen zum Thema, auf Kassetten, Schallplatten und CD, mit exakten diskografischen Informationen. Das ist keine persönliche Zusammenstellung zum Thema; das ist ein Lexikon!
Nach dem vor-und-zurück lese ich jetzt doch von vorne nach hinten.
Dr. rer. pop. Schneider hat ein höchstinteressantes, kundiges Buch geschrieben, in dem der Musikliebhaber Frank Apunkt mit seinen persönlichen Einschätzungen nicht hinterm Berg hält.
Was, finde ich, dem Thema „Pop“ durchaus angemessen ist.
Ich erspare es mir, auf alle Details des prallen Inhalts einzugehen, auch weil ich annehme, dass die potentiellen Käufer, die sehnlichst auf eine Wiederveröffentlichung dieses lange vergriffenen Buchs gewartet haben, sich es nicht wegen meiner Ausführungen zulegen werden.
Wer diese Zeilen aber liest und dadurch ein brennendes Interesse für die Neue Deutsche Welle der verblichenen 1980er Jahre entwickelt, dem oder der sei das Buch aus den oben genannten Gründen empfohlen, auch wenn es schon siebzehn Jahre alt ist.
Und zum Schluss @Ventil Verlag: Ich bin schon gespannt auf die nächste NEUERSCHEINUNG aus Eurer Musiksparte, das mir unser Chefredakteur zuschickt.