Enden der Nahrungskette
Text und Bild Stefani Kopetschke & Teresa Rübel
170 eier!!
Wenn ihr eine Reporterin dabei zusehen würde, wie sie die Nachricht ihres großen Bruders lesen, zwei Fahrradtaschen bereitstellen und ihre Gummihandschuhe in den Rucksack packen würde, würde sie darum bitten, dass ihr Name nicht genannt wird. Ihr Bruder ist da anders, ja, würde der sagen, schreiben Sie ruhig, um 21:35 holt Alex Maurer sein Fahrrad aus dem Keller. Aber sie macht sich Gedanken, was, wenn ich mal ein Vorstellungsgespräch habe, beim öffentlichen Dienst oder so? Also sagen wir, es ist L., die heute um 21:40 ihr Rad aus dem dritten Stock nach unten trägt. Alex war vor L. da und hat geschrieben:
aldi. 170 eier!!
Wenn sie zuerst da ist, schreibt sie:
kaufland erdbeeren + rhabarber
(zum Beispiel)
oder:
aldi nichts
Bananen schreiben sie einander nicht, die sind fast immer drin, genau wie Zitronen und Paprika.
L. fährt an der Polizeiwache vorbei und biegt links auf den Aldiparkplatz ein. Alex hatte sie beruhigt am Anfang, die Polizisten seien nur ein einziges Mal rumgekommen in all den Jahren und auch nur, weil ein Alarm losgegangen sei. Als die Beamten wissen wollten, was er hier treibe, habe er geantwortet, ich hole nur was aus den Tonnen, das mache ich seit Jahren, noch nie ist der Alarm angesprungen, das muss von woanders herkommen. Die Polizisten hätten seine Personalien aufgenommen, und er hätte nie wieder von ihnen gehört.
Trotzdem ist es eine Straftat, das hat L. recherchiert. Hausfriedensbruch wäre es, wenn sie über einen Zaun oder ein Tor klettern würde, aber hier ist nichts, sie fährt einfach nach hinten zur Warenanlieferung durch. Wenn sie die Rampe hochsteigt, springen die Strahler an, immer noch ein unangenehmer Moment, wenn der Hinterhof plötzlich erleuchtet ist und sie im Scheinwerferlicht steht. Im richtigen Leben würde L. gern mal auf einer Bühne stehen, weiß aber noch nicht, als was, deswegen studiert sie Kulturwissenschaften und hofft auf einen Richtungszeig des Schicksals.
L. zieht die Gummihandschuhe an und hebt den Deckel der ersten Tonne ab. Die Bananen liegen obenauf, kaum Druckstellen, die werden gern gegessen in ihrer WG, die Trauben darunter auch, acht Packungen, sie hat keine Zeit nachzusehen, ob die wieder aus Indien kommen.
Aber auch wenn Hausfriedensbruch nicht in Frage kommt, steht immer noch Diebstahl im Raum. Nicht in der Schweiz, da ist die Entwendung von Abfall kein Delikt. Da muss der Wegwerfende zu seiner Haltung stehen, da kann er nicht sagen, für mich ist die Sache Müll, aber für dich ist sie mein staatlich zu schützendes Eigentum, deshalb zeige ich dich an. In Deutschland ginge das. In Deutschland könnte man das als Diebstahl von Waren im Wert von 0 Euro beurteilen.
L. wird auch den Eltern Trauben und Bananen vorbeibringen, außer Alex ist schneller. Ist das nicht gefährlich, hatten die Eltern gefragt, als er zum ersten Mal einen Rucksack voller Lebensmittel auf ihrem Küchentisch ausgelehrt hatte, musst du das machen? Brauchst du Geld? Er erklärte es so: Sobald die Tonnen leer sind, gehe ich wieder vorne rein in den Supermarkt. Sobald die Menschheit eine bessere Idee hat für die1,3 Milliarden Tonnen weggeworfener essbarer Lebensmittel pro Jahr. Hungrige Bäuche füllen zum Beispiel. Darüber, dass das BAFöG doch knapp ist, dass Höchstsatz besser klingt, als es ist, sprach er mit den Eltern nicht.
L. sieht etwas Rotes unter den Trauben. Erdbeeren, Tomaten? Sie prüft die Tomaten auf ihre Festigkeit und steckt drei Packungen ein. Die Eier sind in der zweiten Tonne, 170, unglaublich, sie befüllt eine Fahrradtasche mit zehn Kartons und den Rucksack mit sieben. Alex hat vorhin schon zehn Kartons mitgenommen. Sie wird die Eier posten, die gehen schnell weg in Zeiten pandemischen Backfiebers.
Alex hatte den Vater mal mitgenommen zu Kaufland, nachts. Kaufland schließt zwar um 22:00 Uhr, die Mitarbeiterinnen oder Supermarktmanagerinnen oder was man denen sonst für tolle Namen gibt als Ausgleich räumen dann aber noch bis 23:30 rum, bis sie endlich den Laden schließen dürfen. Sie waren um Mitternacht mit dem Auto der Eltern auf den Hinterhof gefahren und Alex hatte dem Vater innerhalb von fünf Minuten den Kofferraum vollgepackt. Der Vater hat am nächsten Tag alles verarbeitet, dafür ist er Experte nach fünfundvierzig Jahren Küche. Großküche, Kaufhausrestaurant, Hotel, zuletzt Kantine, hat er alles gemacht bis zur Verrentung mit 60, als nichts mehr ging, als Hüften, Knie und Schultern kaputt waren und das offene Bein nicht mehr zuwachsen wollte wegen des jahrzehntelangen Stehens auf Steinfußboden. So kamen auch die Eltern zu der Meinung, es sei vernünftig, Lebensmittel nicht einfach wegzuschmeißen.
L. öffnet die nächste Tonne, die bis oben mit Grillfleisch gefüllt ist: Gestern war Vatertag. Das sind die saisonbedingten Sortimentsschwankungen. Nach Silvester hat sie kiloweise Raclettekäse rausgeholt, in der WG haben sie wochenlang alles überbacken. Aber Fleisch ist schlimmer. Wie diese Wahnsinnsmengen sie deprimieren. Diese Viecher, die das elendste Leben geführt haben und jetzt liegen sie hier in der Tonne. Obwohl L. Vegetarierin war, hat sie am Anfang alles mitgenommen, Schweinegeschnetzeltes, Würstchen und Hack. Aber niemand wollte es haben, bei Fleisch war die Grenze erreicht, das war allen ihren Bekannten zu riskant. Obwohl Alex auch manchmal Fleisch rausholte, war sie verunsichert und rief den Vater an: Wie gefährlich ist das? Bei kühlen Temperaturen hält es sich bis zwei Tage nach Verfallsdatum, kannst du bedenkenlos essen, sagte der.
So wurde L. wieder zur Fleischesserin, allerdings nicht einfach so, sie musste sich was zurechtlegen. Sie entwickelte die Idee, die Tiere zu ehren, indem sie sie verspies. Den Tieren posthum ihre Würde zurückzugeben. Das zu ihrer Haltung passende Gefühl will sich allerdings bis heute nicht einstellen, vielleicht ist L. nicht religiös genug.
L. nimmt ein paar Geflügelbratwürste, die übermorgen ablaufen. Den Rest lässt sie drin, sie hat es aufgegeben, sie kann nicht alles essen, sie kann es nicht schaffen, sie schließt den Deckel.
Auch wenn es im Prozess um Waren im Wert von 0 Euro gehen würde, weiß L. nicht, ob sie sich den leisten könnte. Die Aldis können sich Prozesse leisten, die prozessieren seit Jahren wild gegeneinander herum. Nicht dass sie die Aldi-Witwe um ihre Milliarden-Schlammschlachten beneiden würde, auch nicht um ihre dicken Halsketten oder ihre Federhütchen, denn L. lebt ganz in der unbewussten Überlegenheit ihrer Jugend.
Für heute reicht es, denkt sie, in die anderen Tonnen schaut sie nicht mehr rein. Zum Glück wird L. heute ihre Taschen nicht auswaschen müssen. Sie rätselt jedes Mal, wenn aufgestochene Yoghurtbecher in den Tonnen sind: Will uns jemand das Leben schwer machen? Aber die wissen doch, dass wir trotzdem kommen. Oder wollen die uns schützen? Vor Bakterien? Weil die Becher vorher schon kaputt waren?
L. zieht die Gummihandschuhe aus. Anfangs hatte sie keine dabei, da musste sie mit bloßen Händen das verfaulte Gemüse beiseiteschieben. Am übelsten riechen verdorbene Paprika. L. hat seit geraumer Zeit das Gefühl, dass sie den Müllgeruch nicht mehr loswird, dass er an ihr haften bleibt, egal wie lange sie an ihren Händen schrubbt, egal, wie oft sie ihre Kleider wäscht. Das bildest du dir ein, sagt Alex, man riecht nichts. In unangenehmen Dingen wollen sie immer ehrlich zueinander sein, L. sollte ihm glauben. Trotzdem hat sie das Gefühl, dass sie dem Müll auf Dauer nicht standhalten wird. Dass stetiger Müllkontakt etwas macht mit den Menschen. Außer man besitzt die Kraft zur Mülltransformation, so wie Alex. Es scheint eine geistige Kraft zu sein bei ihm. Er schreitet voran und verwandelt, dazu muss man angstfrei sein, und was die beiden jetzt noch nicht wissen ist, dass Alex Fortkommen auch durch Anzeigen, Gerichtsprozesse oder Vorstrafen nicht zu stoppen gewesen wäre.
Denn später war es nicht er, der beim öffentlichen Dienst vorsprach. Der öffentliche Dienst brauchte ihn, Alex aus Billstedt, denn der wusste alles über Datenklau. Später wird Alex tagsüber Ministerien beraten, und abends wird er die Kaufland-Tonnen öffnen, so wird er es machen, und es zeichnet sich schon früh ab, dass er es so machen wird und dass kein Müll ihm etwas anhaben kann und dass er darüber entscheidet, was Müll ist.
Alex geht voran, und L. versucht zu folgen, und auch die Eltern versuchen zu folgen. Für zehn Euro im Monat kann man am Samstagabend das Gemüse abholen vom Markt, dann müsst ihr nicht mehr so oft rausfahren, sagte die Mutter am Telefon. Einmal nahmen die Eltern Alex mit zum Markt. Nach einer Stunde Schlangestehen mit den Sozialhilfeempfängerinnen, Arbeiterinnen und Rentnerinnen luden sie das Auto voll. Der Vater verarbeitete das Verderbliche noch am selben Abend.
L. hängt die Fahrradtaschen ans Rad, setzt die Kopfhörer auf und fährt los. Der Alex hat sich für uns geschämt, hatte die Mutter am Telefon gesagt. Er hat da neben der Schlange gestanden und nicht gewusst, wie er schauen soll. Das müsst ihr nicht machen, hat er gesagt, die Lina und ich, wir bringen euch doch alles.
Da erkannte Lina des Bruders Achillesferse: In der Schlange hatten keine Mitstreiterinnen gestanden, keine Aktivistenfreunde, sondern sein Vater, der 850 Euro Rente kriegt für 45 Jahre Maloche und seine Mutter, die noch bis zu ihrem siebzigsten Lebensjahr im Hotel Zum Bären abspülen wird. Das Schlangestehen der Eltern in einen Triumph zu verwandeln, dazu reicht selbst des Bruders Kraft nicht hin.
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