Absolute Kunst

von Stefan Lochner

Die Arbeitswoche stand kurz vor ihrem Ende, als mich Jürgensen, mein Teamleiter, zu sich ins Einzelbüro rief.
„Herr Wollinger, was haben Sie da schon wieder abgeliefert? Oder vielmehr nicht.“
Ich glotzte ihn verständnislos an, war mir keiner Schuld bewusst. Er schob mir einen dünnen Ausdruck über den Schreibtisch. Ein kurzer Blick genügte: „Das ist meine Draft Version von Anfang der Woche. Den kompletten Vertrag habe ich gestern Abend hochgeladen.“
Er rastete aus.
„Nichts haben Sie gemacht, Sie Versager. Ich melde dies dem Management. Zum Glück hat Kollege Theuerkauf alles erledigt.“
„Der hat gar nicht daran gearbeitet! Ich habe doch…“
Mein Teamleiter erhob sich drohend: „Sie behaupten doch nicht etwa, dass Ihr Kollege lügt?“
Hilflos gegenüber solcher Ignoranz, schlich ich zurück ins Großraumbüro.
Theuerkauf grinste, bis ich ihn anbrüllte: „Sie haben meine Arbeit als Ihre ausgegeben. Sicher muss ich deswegen meine Ergebnisse auf die Datenbank laden.“

Er hatte diese Vorgehensweise vorgeschlagen, damit er meine Arbeit stehlen konnte. Unserem Management fiel das nicht auf. Erbost schloss ich meinen Laptop ein und verließ das Büro. Am Abend betrank ich mich in meiner Stammkneipe, holte mir von der Kellnerin eine Abfuhr und schwankte heim ins Bett. Obwohl solche Wochen die Regel waren, war ich am Boden zerstört. An Erniedrigungen gewöhnte ich mich nie.
Der Samstag verging in Trance: Einkaufen, Bad Putzen, im Frust Suhlen; erst abends hellte sich mein Geist auf. Ich zog mein bestes Hemd an und stellte mich in die Schlange vor der Disco. Nachdem ich eine halbe Stunde gewartet hatte, wollte mich der Türsteher hineinwinken, als ein gelackter Affe zu ihm trat und ein paar Worte ins Ohr flüsterte. Ich traute meinen Augen nicht, als ich Theuerkauf erkannte? Der Türsteher winkte ab. Das nette Mädel mit dem lustigen Zopf hinter mir, blickte mich bedauernd an. Mitleid ist die härteste Form der Verachtung. Einen langen Blick tauschte ich mit ihren grünen Augen, da zog ihre Freundin sie in den Schlund der Disco.
„Es kann nicht alles klappen!“, rief Theuerkauf.

Bevor ich ihm noch eine scheuerte, suchte ich das Weite, wartete eine Stunde auf den Bus und zuckelte nach Hause. Daheim öffnete mein Notizbuch. Detailliert notierte ich meine Aktionen für den Sonntag, dem einzigen Tag in der Woche, an dem ich lebte. Derart beruhigt schlief ich ein, bis mich der Wecker um 7:15 aus grauen Träumen riss. Auf dem Rücken liegend, stellte ich mir vor, was ich in den Stunden bis 24:00 zu erledigen hatte.
Unter der Dusche rann eiskaltes Wasser über meine Haut, danach rubbelte ich mich ab, bis das Blut durch meine Adern schoss. Der erste Schritt in meiner sonntäglichen Verwandlung zu einem Künstler war getan. In Unterwäsche betrat ich den Keller, schob den Schrank zur Seite, hob eine Falltür und griff meinen Overall. Sorgfältig strich ich ihn glatt und zog ihn über. Eine wunderbare Kraft durchströmte mich. Eine blaue Schirmmütze verdeckte mein Gesicht. Jetzt war ich bereit, die nächsten Kunstwerke zu erschaffen. Theuerkauf hatte sich mit einer Einladung zu der angesagten Vernissage gebrüstet. Als er die wenigen Meter von seinem Häuschen auf die Straße trat, beschleunigte ich und hielt direkt vor ihm.
„Taxi?“
Zum Glück brauchte man keinen cremefarbenen Daimler mehr, um für ein Taxi gehalten zu werden. Ohne zu zögern, stieg Theuerkauf auf den Rücksitz, sein hellblaues Jackett verunzierte keine Falte.
„Goethestraße 17a, da holen wir eine junge Dame ab, danach zur Städtischen Galerie. Beeilen Sie sich, wir sind spät.“

Er besaß eine Einladung, aber ich, dessen Werke ausgestellt wurden, musste fernbleiben. Gut, das war meine Schuld, denn ich musste anonym bleiben, erfreute mich nur heimlich an meinem Erfolg. Ich knurrte etwas von einer Abkürzung und bog auf einen Feldweg ab. Dort zog ich meine Gasmaske auf, öffnete eine Ampulle. Weißer Rauch breitete sich aus. Ich wartete, bis mein Kunstobjekt regungslos hinter mir lag. Er war zu überrascht, um sich zu wehren. Langsam fuhr ich bis zur alten Hütte. Da kein verirrter Spaziergänger zu sehen war, schleppte ich Theuerkauf in den betonierten Keller. Friedlich lag er vor mir, als hätte er mich nicht seit Wochen gequält. Feierlich verurteilte ich ihn zum Tode.
Das erste Opfer ließ ich noch erwachen, aber den Kampf hätte ich beinahe verloren. Mit den Fingern strich ich über die Brechstange. Vorfreude erfüllte mich. Sorgfältig zog ich meinen Kunststoffanzug über, damit mich keinerlei Schmutz befleckte. Leise atmete ich durch, sammelte mich, dann schlug ich zu. Blut spritzte aus Theuerkauf, ergab wunderschöne Muster auf den weißen Fliesen. Bevor sie verschmierten, hielt ich sie fotografisch fest, die Basis für mein Gemälde. Noch ein Schlag, die Spuren vermischten sich. Wut schuf Kunst. Lange hatte ich gebraucht, bis das Ambiente arrangiert war, dieses Gebäude mit den Bunkerräumen, errichtet Ende des zweiten Weltkriegs durch eine Nazigröße, um sich vor den Folgen seiner Taten zu schützen. Hier entsorgte ich Theuerkaufs Leichnam, der die Ehre hatte, in Kiste 13 zu liegen. Zurück im gefliesten Keller kam der Hochdruckreiniger zum Einsatz. Nachdem eine Chemikalie die Reste des Blutes zerstört hatte, entsorgte ich den Plastikschutz.
Unter den frischen Eindrücken hastete ich in mein Atelier, wo die Leinwand auf mich wartete. Penibel kopierte ich die fliegenden Blutspritzer von den Fotos. Die Dynamik des Todes faszinierte das Publikum. Die zarten Rottöne veränderten sich von links unten nach rechts oben ein wenig, was den Reiz des Bildes verstärkte. Die nächste Leinwand wartete auf die Darstellung der Wunden. In tausendfacher Vergrößerung ergaben sich fantastische Landschaften. Die Schrunden nannte ich Mars. Wie immer, zerstörte ich die SD Karte mit den Fotos und legte sie zum Toten.
Daheim stellte ich die neuen Bilder im Keller zu trocknen auf. Ein erfolgreicher Tag wartete auf einen würdigen Abschluss. ich fuhr zur Disco, bereit, in der kühlen Atmosphäre zwei Bier zu trinken und Frauen beim Tanzen zuzuschauen. Zu meinem Erschrecken wartete vor dem Eingang die Brünette vom vorherigen Abend. Sie deutete auf meine Schuhe mit den roten Spritzern. Ich wollte sie erschrecken: „Das ist Blut vom letzten Mord.“
Sie lachte: „Quatsch, das ist Farbe, ich kenne mich da aus. Tanzen wir?“

Der Abend nahm eine grauenhafte Wendung. So würde ich nicht mehr sonntags meinen künstlerischen Neigungen nachgehen könnten. Nach ein paar Liedern beschloss Sandra, mich nach Hause zu begleiten. Sie war nett, wir unterhielten uns so gut, dass ich mich nicht wehrte, auch wenn dies meiner Kunst abträglich sein würde.
Am nächsten Morgen, einem typischen Montag, streichelte ich Sandra, schlich ins Büro in Erwartung eines geharnischten Donnerwetters, dem Beginn einer grässlichen Arbeitswoche. Jedoch die notwendige Bedingung für einen erfolgreichen Sonntag. Auf meiner Liste zukünftiger Kunstwerke stand inzwischen Jürgensen an erster Stelle. Tatsächlich fand ich eine Einladung meiner Chefin, wollte sie mich entlassen? Acht Uhr 55 klappte ich den Laptop zu und betrat das Büro von Frau Hinnerks. Sie musterte mich über den Rand ihrer Brille, mit dem Gesichtsausdruck einer Mathelehrerin. Freundlich deutete sie auf den Besucherstuhl, in dem ich versank wie in einem Sumpf.
„Herr Wollinger, wie ich gehört habe, kam es letzte Woche zu Unstimmigkeiten. Bitte erzählen Sie mir Ihre Sicht.“
Ich stotterte vor Überraschung.
„Am Montag hatte ich den ersten Draft des Vertrages an Hubertz und Partner hochgeladen. Bitte klicken Sie auf das Symbol Versionen. Da sehen Sie den Verlauf.“
Sie tat, wie ich es ihr vorgeschlagen hatte. „Ah, die nächste Version hatten Sie am Donnerstagabend erstellt.“
Sie war nicht blöd, so fügte ich hinzu.
„Wie Sie sehen, hat Theuerkauf in der folgenden Nacht meine Version heruntergeladen und gelöscht. Mit kosmetischen Änderungen lud er sie am Freitag hoch.“
Frau Hinnerks nickte. „Wo steckt eigentlich Herr Theuerkauf?“
Ich zuckte mit den Schultern.
„Vielleicht befürchtet er, dass Sie den Fortgang der Arbeit kontrollieren und sich nicht auf sein Wort verlassen wie Herr Jürgensen.“
Die Abteilungsleiterin stand auf, reichte mir die Hand und drückte sie fest.
„Klingt logisch. Kümmern Sie sich bitte um den Vertrag mit Thierfelder. Ich verlasse mich auf Ihre Expertise.“

Wie bitte? Dabei handelte es sich um ein Einkaufsvolumen von 7,5 Millionen Euro. Der Tag verlief nicht nach meinem Geschmack. Zu allem Überfluss wartete daheim eine hübsche Frau auf mich. Nach Jahren des Misserfolgs bezweifelte ich, dass ich meine Leidenschaft sonntags nie mehr würde ausüben können. Vielleicht sollte ich meinen Arbeitgeber wechseln.

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