Ankommen
Auf dem Tisch liegen die alten Fotos. Regine hat sie aus der Kiste genommen, um sie der zeitlichen Reihenfolge nach zu sortieren. Fotos aufgenommen vor dem Krieg, während des Krieges, nach der Flucht. Während der Flucht wurden keine Fotos gemacht. Ihre Großmutter blickt in die Kamera, Fotoatelier Bürgerstraße ist auf die Rückseite gestempelt. Daneben hat jemand mit Bleistift August 1945 geschrieben.
Regines Großmutter, umringt von fünf Kindern. Still lächelnd blicken sie in die Kamera, Helga, Regines Mutter, die zweite von rechts. Alle sehen herausgeputzt aus, Louise hat eine Schleife im Haar, Lutz, der Jüngste, damals kaum fünf Jahre alt, blickt ernst. Links im Bild: Ingrid und Barbara, damals fünfzehn und sechzehn Jahre alt, mehrfach vergewaltigt auf dem Weg von Osten nach Westen, die Haare zu langen Zöpfen geflochten.
Regines Großmutter in der Mitte, als einzige sitzend: Mitte vierzig, das blonde Haar zu einem Dutt gebunden, eine alte Frau blickt sie an. Mit ihren fünf Kindern ist sie durch die Reste des Großdeutschen Reiches gezogen, zwischen Februar und August 1945. Zu Fuß, in überfüllten Zügen, über Chausseen, zerschossene Brücken. Geschlafen haben sie in Ställen, versteckt zwischen Heu, in verlassenen Küchen, in denen angetrocknetes Essen auf dem Tisch stand, in überfüllten Bunkern, in Eisenbahnwagen. Das letzte Stück fuhren sie mit der Straßenbahn, dann standen sie vor einem Gartentor: Eine Erwachsene, fünf Kinder, verdreckt und verlaust, erschöpft und verarmt. Doch immerhin: lebend. Die Freude von Großmutters Schwester, die im Haus hinter dem Gartentor wohnte, war verhalten, das Haus ohnehin schon voll.
Regine sortiert die alten Fotos. Regine versucht, ihr eigenes Leben zu sortieren. Regine: 48 Jahre alt, geschieden, Lehrerin. Lehrerin erst seit einigen Jahren, davor: Dozentin in der Erwachsenenbildung, Angestellte bei einem Bildungsträger, arbeitslos, Verkäuferin eigener Produkte auf Kunst- und Keramikmärkten, Nachhilfelehrerin und Sekretärin in einer Anwaltskanzlei, verheiratet mit 38, mit 45 wieder geschieden, kinderlos, und immer: auf der Suche.
Auf der Suche nach was? fragt sich Regine und legt ein Foto beiseite. Ihre Mutter und zwei ihrer Schwestern auf der steinernen Treppe vor der Haustür im Dorf an der Warthe. Kurze Kleidchen, Schleifen im Haar, Sommer. Regine meint, das Rauschen der Linde vor dem Haus zu hören. Das Haus hat ihre Tante Ingrid, Malerin, auf dem Foto etwa sieben Jahre alt, mehrfach in Öl und Pastell festgehalten. Immer mit der Linde links vor dem Haus. Das Dorf mit dem Haus liegt heute in Polen, seinen Namen kann Regine kaum aussprechen.
Nach der Wende ist Regines Mutter in das Dorf ihrer Kindheit gefahren. Das Haus stand noch, herabgefallene Dachziegel lagen im Gras, die Eingangstür hing im Rahmen, der Baum stand mit mächtiger Krone vor dem Haus. Regines Mutter hat Blätter der Linde mitgebracht und sie zwischen zwei Buchseiten gepresst. Dort hat Regine sie gefunden, als sie anfing, den Nachlass der Mutter zu ordnen. Die Bücher aussortierte für Antiquariate, online-Auktionen, den Flohmarkt. Die kleine Kiste mit den Fotos entdeckte, die nie in ein Album geklebt wurden.
Sommer, ihre Mutter sagte, Sommer, das hieß: Schwimmen im See hinterm Haus, durch die Felder streifen, mit den Bauerskindern spielen, zu Fuß in die Stadt laufen und dort Limonade trinken. Winter, ihre Mutter erzählte, Winter, das hieß: Auf dem zugefrorenen See Schlittschuh laufen, frierend nach Hause kommen, sich am Ofen wärmen, heiße Milch trinken. Regine meint, das Geräusch des Schnees zu hören, der unter den Schuhen dicht getreten wird.
Vor drei Jahren war sie auch an diesem Ort, im Sommer. Die Linde schlug ihre Wurzeln in die Erde, ein alternder Baum. Das Dach des Hauses war eingefallen, die Stufen der Eingangstreppe glatt, die Umfassungsmauer gebrochen, die Terrasse auf der hinteren Seite von Sträuchern überwuchert. Regine umrundete das Haus, sie ging in die Hocke und blickte in ein dunkles Kellerloch: Hatte hier die Großmutter mit ihren Kindern nachts gesessen aus Angst vor einem plötzlichen Einmarsch der Russen?
Die vordere Eingangstür ließ sich öffnen, doch Regine wagte nicht, das Haus zu betreten. Der Wind rauschte in den Blättern der Linde. Regine saß auf den Stufen der Eingangstreppe. Ein Auto fuhr auf der Dorfstraße vorbei.
Letztes Jahr in den Sommerferien ist Regine wieder nach Osten gefahren, bis an die polnische Grenze. Hat auf der deutschen Seite am Oderufer gesessen und hinübergeblickt. Die Landschaft flach, der Himmel unendlich. Hat eine Sehnsucht gespürt. Ihre eigene? Die ihrer Mutter? Die vor Jahrzehnten nicht weit von dort über eine noch nicht zerstörte Oderbrücke nach Westen geflüchtet war. Hat sich das damals zwölfjährige Kind noch einmal umgeblickt?
Heimat ist hier nicht, hat Regines Mutter immer gesagt und aus dem Fenster geblickt in der Mietwohnung im Westen. Heimat ist hier nicht. Nie ist sie angekommen, denkt Regine. In einer Heimat, die die Heimat ihrer Mutter, Regines Großmutter war, doch nicht ihre eigene. Ich durfte meine Puppe nicht mitnehmen, sagte Regines Mutter einmal, meine Puppe musste dortbleiben. Wir Kinder hatten nur kleine Rucksäcke, erzählte sie, Großmutter zog einen Handwagen, die Bauern hatten die Wagen angespannt, darauf lagen Betten und Hausrat, dazwischen saßen die Alten, die nicht mehr laufen konnten. Das Dorf sammelte sich zu einem Treck, wir liefen hinter den Wagen, von Vater wussten wir nichts, er war irgendwo weiter im Osten, dort, wo die Front grollte.
Regine erinnert sich, wie ihre Mutter auf dem Balkon der Wohnung sitzt, der Wohnung, in der Regine aufwuchs, ihre Mutter sagt: Dort hinten, hinter dem Gebüsch, so nah war der See früher. So weit der Himmel über dem See. Nicht so wie hier. So einen weiten Himmel kannst Du Dir gar nicht vorstellen. Regine war damals vierzehn und dachte nur: Das interessiert mich alles nicht, das ist doch alles Vergangenheit, was soll ich mit Deiner Vergangenheit?
Später, als die Mutter allein in einer kleinen Wohnung lebte, freute sie sich, als der Baum vor dem Haus gefällt wurde. Der Blick in den Himmel ist jetzt frei, sagte sie, endlich. Regine, nun dreißig Jahre alt und in einer anderen Stadt lebend, tat es leid um den Baum. Immerhin, es war keine Linde gewesen. Das hätte der Mutter wohl auch leid getan.
Als Regine vor drei Jahren um das Haus weit im Osten herumging, auf der Treppe saß, in den Himmel blickte, dem Rauschen der Linde lauschte, fiel ihr die Puppe der Mutter ein. Ob sie noch irgendwo lag? Ihre Mutter lebte damals noch, in einem Heim, am liebsten hätte Regine die Puppe gefunden, um sie ihrer Mutter mitbringen zu können.
Gibt es das, hat sich Regine in den letzten Monaten manchmal gefragt, das Gefühl, zurückkehren zu müssen in eine Landschaft voller Erinnerungen, voller Bilder, Geräusche und Stimmungen?
Zurückzukehren wie nach einer langen Flucht, die doch nicht ihre eigene war. Doch sie war nun die, die zurückgehen konnte. In eine Landschaft, aus der ihre Mutter fliehen musste, aus der sie herausgerissen wurde, als sie noch ein Kind war, wo sie hinter dem Haus im See schwamm und abends mit ihrer Puppe im Bett lag.
Regine hat die alten Fotos wieder in die Kiste zurückgelegt. Nicht alle tragen ein Datum auf der Rückseite, bei einigen konnte sie nur raten, wann sie aufgenommen wurden. Die Fotos wird sie mitnehmen. Regine hat einen Entschluss gefasst. Der weite Himmel, das Rauschen der Bäume. Ein Blick, der sich in der Unendlichkeit verlieren kann. Nicht so wie hier, denkt Regine. Und: Wo ist Heimat? Dort, wo man ankommen kann? An den Orten, an denen sie bislang gelebt hat, hat sie sich zu Hause gefühlt. In ihrer Wohnung, in ihrem Leben, mit Mann, ohne Mann, in wechselnden Berufen. Angekommen hat sie sich nie gefühlt. Zu Hause und Heimat, denkt Regine, sind zwei unterschiedliche Dinge.
Eine Sehnsucht spürt Regine, die doch nicht ihre eigene sein kann, doch zu ihrer eigenen geworden ist und immer stärker wird, seitdem ihre Mutter gestorben ist. Eine Sehnsucht nach Beheimatung, nach endgültigem Ankommen.
Regine packt die Umzugskartons, die Kiste mit den Fotos legt sie in einen Koffer. Sie hat viel aussortiert in den letzten Wochen. Durchs Leben reist man am besten mit leichtem Gepäck, hat ihre Mutter oft gesagt. Einmal hat sie erzählt, dass sie schon Wochen vorher für die Flucht gepackt hatten.
Ist sie nun auf der Flucht vor ihrem eigenen Leben? fragt sich Regine. Sie lässt Freunde und Kollegen zurück, einen vertrauten Ort, an dem sie alles hat, was sie braucht. Oder kann ihr Leben erst richtig beginnen unter dem weiten Himmel, in einer Landschaft voll tiefer Seen und mit einem Horizont, der sich in der Ferne verliert? Regine schließt den Koffer, morgen kommen die Umzugsleute.
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