Anne Enrights verzaubernder Realismus

Rezension von Maja Seiffermann

Anne Enright, The Green Road (deutsch:Der lange Weg), 2015, ISBN: 9780099539797, 320 S., Taschenbuch, 9,99 € (D)

And there they were. It was a Christmas like the ones they remembered from the old days – and how could they forget how the dinner always ended? It was traditional, you might say. Rosaleen got upset. “I don´t know why everyone is getting at me”, she said, “The ungrateful children I reared.”

Tears coated her eyeballs; she blinked them back.

“Oh darling”, said Dan in a voice that was almost bored, “Rise above.”

So in etwa und noch ein bisschen dramatischer und mit einer Prise Rätselhaftigkeit mehr läuft 2005 das Weihnachtsfest der Madigans ab. Nach Jahrzehnten treibt es die Familie an einen Tisch. Dass die Karte der Mutter, in der sie die Geschwister um ein Treffen bittet, die Familie zusammentreibe, wäre ein bisschen übertrieben und zu positiv ausgedrückt.

Dan, Emmet, Hannah und Constance hat es nach ihrer Jugend aus ihrem Kindheitsdorf in Westirland in die ganze Welt verschlagen. Ihre eigenen Probleme, die oftmals ihrer Kindheit entspringen, müssen sie in den Hintergrund stellen und anreisen, da die Mutter das Kindheitshaus verkauft.

Dan beispielsweise, der früher Priester werden wollte und sich jetzt in der New Yorker Kunstszene wohlfühlt, wird daheim mit einigen Liebeskonflikte konfrontiert oder hat Probleme mit Freundschaften. Das HIV der 90er Jahre raubt ihm einige seiner homosexuellen Freunde, was ihn aber anscheinend kalt lässt. Dan, der selbst auch homosexuell ist, hat große Probleme damit zu lieben und findet erst spät sein Glück. Für seine Mutter ist er immer der Nette, der, mit dem sie spricht, wenn sie mit sonst niemandem sprechen möchte.

Emmet, der jüngere Sohn, reist beruflich als Helfer in afrikanische Krisengebiete. Und doch berührt ihn das Leid der Menschen dort anscheinend nicht so wie z.B. seine Kollegen. Seine Mutter ist der Überzeugung, dass ihr eigener Sohn sie hasst.

(…) and Emmet´s own eyes full of fury. Not passion-Rosaleen would not call it passion. A kind of coldness there, like it was all her fault. Which, of all wrongs in the world, were her fault, Rosaleen would not venture to say, but she thought that famine in Africa was not one of them, not especially.

Während des Weihnachtsessens ist er es leid, seiner Mutter bei ihrem Verhalten zuzusehen.

But Emmet was already bored by the game. He was a grown man. He was trying to expose the foolishness of a woman who was seventy-six years old. A woman who was, besides, his mother.

Hannah, die jüngste von allen, hat ein Baby, einen Partner und ein massives Alkoholproblem, das sie auch bei der Weihnachtsfeier nicht verbergen kann. Es berührt sie, ähnlich wie ihre Brüder, nicht sonderlich, als ihre Mutter dann nicht von ihrem abendlichen Spaziergang zurückkehrt.

Constance hingegen versucht alles richtig zu machen. Sie kauft für das Weihnachtsessen ein, kocht, räumt auf, organisiert einen Suchtrupp, als ihre Mutter verschwindet und versucht alle beisammenzuhalten.

All Constance wanted to do was to make people happy.

Das gestaltet sich jedoch bei den Madigans schwierig. Vor allem, wenn an der Spitze eine Mutter steht, die gar nicht im Kopf hat, andere glücklich zu machen. Als eine der wenigen hat Constance enger Kontakt zu ihrer Mutter. Und doch fragt sie sich beispielsweise nach solchen Gesprächen, warum eigentlich;

“You´ll have a cup of tea? Hating immediately, the sound of her voice.

I won´t, said Constance. We´ll have tea enough tomorrow. She was speaking loudly as though Rosaleen were deaf.

Why can´t you, sure? Said Rosaleen.

Mammy, said Constance with a slight lift of her arms. There it was again, that stupid word.

Mammy, Rosaleen said. Grow up, would you?

I´ll do my best, said Constance.

And lose some weight! Rosaleen wanted to say.”

Rosaleen ist mit ihren fast 80 Jahren der mysteriöseste Charakter des Buches. Wenn man glaubt, sie durchschaut zu haben, tut oder sagt sie erneut etwas, das man nicht versteht. Sie wirkt verwirrt vom Leben, und für Mitleid doch ein bisschen zu gemein bestimmt. Sie hat das Gefühl alle geben ihr die Schuld für etwas und ihr Verhalten sei damit nur gerechtfertigt. Und so landen die Madigans in einem Teufelskreis.

Ihre Gedanken mitzuverfolgen ist dennoch wahnsinnig spannend.

But there was something wrong with the house and Rosaleen did not know what it was. It was as though she was wearing someone else´s coat, on that was the same as hers – the exact same, down to the make and size – but it wasn´t her coat, she could tell it wasn´t.

She was doing a Christmas card for Emmet. A man who blamed her for everything, including the death of his own father. Because that is what your babies do, when they grow. They turn around and say it is all your fault.

Erst am Ende des Buches zeigt Rosaleen ein bisschen Einsicht und zeigt eine verletzlichere Seite von sich:

And she was sorry too. Her lovely children. Why she could not be nice to them, she did not know. She loved them so much. Sometimes she looked at them and she was so flooded with love, she just had to go and spoil it. (…) They used to be so beautiful. They were so trusting and good. It made her feel not good. Unappreciated. It made her feel irrelevant. That was it. ´What about me?´ She said.

Dass man sie aber vollständig versteht, ist sicherlich nicht Enrights Intention. Das ist eine der Besonderheiten an diesem Buch. Enright verschafft uns nicht nur einen guten Einblick in die Gedanken der Charaktere, indem sie uns in einen Lebensabschnitt jeder Person einführt.

Sie ermöglicht den Lesern Empathie und dass man mitfiebert, obwohl das meiste von einem außenstehenden Erzähler beschrieben wird. Dieser gibt uns die gleiche Distanz zum Geschehen wie die der Madigans zueinander.

Der Anfang des Buches wird geprägt von individuellen Geschichten aus den einzelnen Leben der Geschwister. Es wird von Emmet in Mali, Dan in New York oder Hannah in Dublin erzählt. Dass man aus einem Lebensabschnitt so viel von einer Person erfährt, ist sehr beeindruckend. The Guardian schreibt, man könne das Buch auch als mehrere Shortstorys wahrnehmen, und das ist korrekt; Durch Dans Leben wird beispielsweise die HIV-Problematik und durch Constances Leben der Wandel in der irischen Wirtschaft verarbeitet.

Da man sich davor gewöhnt hat an die individuellen Storys, erscheint es einem so unpassend wie den Charakteren wahrscheinlich auch, die Madigans später alle gemeinsam an einem Tisch sitzen zu haben und die Gesamtsituation beobachten zu dürfen.

Es wird für den Leser irgendwann fast schon zu einer Aufgabe, die Ursache für die Disharmonie innerhalb der Familie zu finden. Da ist es auch in Ordnung, dass man ein wenig traurig ist, wenn das Buch vorbei ist.

Enrights Realismus macht das Buch so individuell; Die Sätze oder Gedanken sind nicht beschönigt, sondern werden mit einer sehr authentischen Kälte rübergebracht, wenn dies notwendig ist.

Alltägliche Banalitäten werden mit einer literarischen Wucht beschrieben, die ich so schon lange nicht mehr erlebt habe.

Als Verfechterin guter letzter Sätze, muss ich auch die aus The Green Road zitieren mit dem Appell, diese Sätze zu befolgen:

I have paid too little attention, she said. I think that´s the problem. I should have paid more attention to things.

 

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