Anti-Atlantis oder Überall ist Grenzgebiet

von Lukas Meisner

I

Sie steigen aus dem Zug und trennen sich wortlos, denn was lässt sich sagen, sie sind zurück in Venedig, Freunde sind sie, doch das Wasser steht wieder zwischen ihnen. Ein Waten ist das Leben, Waten und Warten darauf, dass das Wasser sinke, aber es sinkt nicht, schon lange nicht mehr, es wird nicht mehr sinken, man hat sich gewöhnt daran, dass Natur jene Gewalt geworden ist, die Menschen zu lange auf sie projizierten. Und also steigen sie aus dem Zug und verstreuen sich einzeln, vereinzelt in die Zwischenräume der Kanäle, um zurückzudenken, zurück an den Tag, der nun verflossen ist, zwischen den Gassen einer Dystopie des kommenden Atlantis, im acqua alta für immer …

II

Es ist der 22. Dezember. Also ist Zeit. Nicht genug, sondern jetzt. Zwischen nackten Felsen werden sie sich treffen. Getrennt voneinander fahren sie aus derselben Stadt ins selbe winterliche Südtirol. Vorhin ist Charles zum ersten Mal aufgefallen, dass mind the trap zwischen gelber Linie und Schienen steht. Ist das neu? Es ist nicht leicht zu wissen, wo man ist. Oder wann. Sie haben alle Orientierung verloren. Zu viel wurde gereist, gerannt, gejettet. Ihre Körper haben ihren Sinn verloren, ihre Sinne. Je mehr ihnen die Bezüge verlorengingen, desto mehr auch die Beziehungen. Oder wohl andersherum – sie kommen nicht mehr umhin, alles als gleichsam invertiert zu vermuten. Auch Charles nicht: manche sprechen ihn französisch aus, manche englisch; er selbst spricht sich nicht aus.
Er gehört zu jenen Menschen, die auf ihrer Brille den Schmutz von Monaten hin- und herwischen, wenn sie sie reinigen wollen, bis, alle halbes Jahr, Spülmittel heranmuss, wonach die Sicht ist wie entschleiert. Nur – wofür? Er ist ein alter Mann, der in einem Zug sitzt, mit schräg sitzendem Jackett und einem Aktenkoffer getürmt auf wie zehenspitzerhöhten, eigentlich nur storchbeinigen Knien. Er fühlt sich nicht wohl in seiner Haut und kratzt sich an den Fingergelenken, steckt die Zunge in die Lasche seines Zahnfleischs, schluckt hart. Sein Herz tut ihm lange schon zu weh. Chronisch fühlt es sich an. Seine Zähne beißen einander, doch unsichtbar von außen hängen seine Wangen doch breit herab, schläfrig, schlüpfrig verbergend seine Anspannung, wie um zu heucheln.
Nur in seinem Blick steht der Druck seines Mundraums, der chronische Herzschmerz, dass er in Haut hause, die zu eng um ihn sitze trotz Laschheit. Sein Bart ist dürr, doch filzig zugleich, seine Augen tränen unablässig, und wie er so dasitzt mit dem Aktenkoffer in diesem schleichenden Zug, denkt er: Draußen ist Nacht, wenn man durch Tunnel fährt. Sternlose Nacht. Weiß, so weiß war der Schnee auf den Bergen. Und an den Grenzen kontrollierten sie, zwischen den Stopps liefen sie zu fünft durch die Waggons, Militärs in Zivil mit Schnellschussgewehren und Taschenlampen zur Passkontrolle. Sie waren gelassener, als ein Mensch es sein kann. Denn kein Polizist ist jemals illegal gewesen; und kein Soldat.

III

Auch Leandro kommt aus Venedig. Auch er mit dem Zug. Sogar im selben, doch in anderem Waggon. Als er von der Toilette an zwei Uniformierten vorbeiläuft, fängt er einen Gesprächsfetzen auf: „… als wir da gemeinsam in der Dusche waren, weißt du noch? …“
Er traut sich nicht, den Kopf zu wenden, doch gönnt sich etwas positive Überraschtheit. Zurück am Platz sind draußen die Ströme türkisen. Astbefreite Holzstämme daneben stapeln nicht, um zu stauen, sondern zum Trocknen. Er runzelt die Stirn unter blonden weichen Locken und seufzt. Gerade wurde durchgesagt, dass es eine “Abgangsverspätung” gebe “aufgrund Lokwechsel”, auch sei “der Zug heute nicht reserviert”.
Leandro wiederholt sein Seufzen. Wohin fährt er? Wohin wird er gefahren? Was will er dort? Wie haben die Pläne angefangen, ihn zu übernehmen? Nach wann und warum wird keine Frage mehr gestellt – nur noch rhetorisch: wie und wo? Wie kommt man ins Jetzt zurück, wenn man sich zu lange fortverlaufen hat aus ihm? Wo findet man es wieder, das Jetzt, wenn man es zwischen den Zeiten verlor? Wie vergegenwärtigt man sich wenigstens sich selbst? Wo ist die Heimat keine Fremde, wie ist man sich selbst nicht am fremdesten an dem Ort, wo man herkommt?
Fremd ist Leandro sich selbst, fremd sind sie einander. “Was sind wir?”, machte er sich, eben, auf dem Bahnklo, selber die Szene: “Tourismus, Klimawandel, Angststörung. Mit der Welt stimmt beinahe alles nicht.“
Einst begann diese Reise nach Südtirol als eine Flucht fort aus Venedig. Inzwischen haben sie sich im Untergang eingerichtet und veranstalten alljährlich seinen Ritus. Wem vermeintlich nicht ausgewichen werden kann, das normalisiert man, so macht das Kultur, so machen sie es, die Kultivierten – kultisch.

IV

Zu den Füßen einer Burg liegt Industrie, als sei sie früher dagewesen; inzwischen das ganze Land zudeckend. Obwohl Dirk eine tragen muss, hat ihm keine Brille je gestanden. Ohnehin ist er nicht sicher, ob er sehen will. Seine Hose ist beige und eng um die muskulösen Beine, die er breit aufstellt. Sein T-Shirt ist grün und knapp um die muskulösen Oberarme, die um seinen Brustkorb quillen. Sein Kinn ist breit, seine Gestik aggressiv. Er ist auf neurotische Art nervös, während draußen der Nebel in den Baumwipfeln hängt. Sein dreißigjähriges Gesicht ist perfekt mit den schweren Augenlidern, den welligen Lippen, der kerzengeraden Nase, nur der Schnee vor den Fenstern ist schmutzig. Eine große Ader sitzt an seinem Hals, die meist deutlich zu sehen ist, weil er seinen Kopf stets geneigt hält.
Er ist ein Pumper und führt ein Foto von sich auf seinem Handy mit, auf dem er seine Muskeln zeigt, um sich daran zu erinnern, dass sie zusammensacken würden, sobald er sich nicht zwanghaft um sie kümmerte, ganz als wäre das Verletzlichste, das, was am leichtesten zu verlieren wäre, der Hünenstatus. Und genau so ist es.
Eine unbestimmte Angst wohnt in ihm, die ihn lähmt am meisten, wenn er morgens aufwacht, so dass er sich immer wieder in den Schlaf hinabziehen lässt, um sich nicht dem neuen Tag zu stellen zu haben. Denn obwohl die Angst, die er fühlt als Objektives, fast, als wäre sie nicht die seine, obwohl diese Angst spürbar von innen nach außen geht, erfüllt sie nicht nur die Welt als das einzige Gehäuse, worin zu leben ist, denn es gibt hier keine Wahl –; sondern sie ist ihm wie x- und y-Achse jenes Koordinatensystems, in dem er sich allmorgendlich von Neuem wiederfindet. Und er denkt, wie er so aus dem Fenster sieht, sich selbst gespiegelt: Nichts ist trostloser als Weinstöcke im Winter. Zu Knollen gestaucht liegt der Schnee auf den Schienen. Ein Felsvorsprung wirkt wie der Fuß eines Riesen.
„Meine sehr verehrten Fahrgäste“, tönt es staubig aus den Boxen. „In wenigen Minuten erreichen wir… erreichen wir…“ – es wird sich geräuspert – „erreichen wir das Ende.“ Man hört noch eine Weile, wie der Durchsager in der Leitung bleibt, doch nach längerer Pause knackt es, und das Rauschen ist for,t und Stille breitet sich aus. Eine halbe Minute später erst meldet die Stimme sich zurück: „Entschuldigen Sie“, sagt sie blechern. „Wenn Sie den Zug verlassen, werden Sie gebeten, Ihre Habseligkeiten mitzunehmen.“ Damit hat sie ihre Pflicht und Schuldigkeit getan, denn mehr ist auch ihr nicht möglich, als pflichtgemäß und schuldig zu sein. Und es knackt von Neuem, diesmal endgültig.

V

Charles, Leandro, Dirk, alte ungleiche Freunde in einer alten ungleichen Welt, die zu sprechen verlernt hat, sind angekommen im Nichtort, in ihrer gemeinsamen Utopie der Atlantisentflohenen, getrennt angekommen sind sie aus Venedig, wo sie doch alle drei wohnen. Bald sitzen sie da, von der Trennung gemeinsam hierhin versandt wie nicht abgeholt, doch angekommen. Angekommen zum Picknick in der Geraden am niedrigsten Punkt, zum Picknick unter Streben und Leitungen, zum Picknick zwischen Reihen nackter Rebstöcke, zwischen Straßen und Schienen: Picknick eingepfercht ins Tal bei Tunneln und Brücken. Picknick von verzäuntem, netzvertäutem, stahlvernähtem Fels eingebettet ohne Decke. Picknick im ockerfarbigen Vorfrost des Winters, doch Wein zwischen sich, Picknick, das nur aus tiefrotem dunkelschwerem Wein besteht, Picknick als kalter Rausch in kahler Zeit. Picknick als stille Feier eintägigen Fortseins, Vergessens, Verlandens, surreal, aber nüchtern, ein Fest, wo sonst doch alles lose ist und bloßes Los, Fest der Versteinerung, Fest gegen das Sämig- und Seichtwerden des ständigen Ertrinkens, Utopie sanfter Versteinerung, zärtlicher Steinigung, Utopie wie Steine ins Stumme gelegt, doch liebkosende Steine, Steine im Ausnahmezustand, Steine, die sich kennen, Steine zueinander gerollt wie von Geisterhand, Steine gesammelt in steinerner Schale, Steinritual: daran noch können sie glauben. Daran beißt sich Zynismus die Zähne aus. Darin finden sie sich wieder. Deshalb kommen sie her jedes Jahr, Charles, Leandro, Dirk: weil sie voneinander wissen, dass sie glauben an mehr als was ist.
Das wissen sie: das Wissen, sie, der Glauben, hier vereinen sie sich, Freunde. Steine werden sie hier, in denen der Frost sitzt, doch Steine durchfeuchtet von Wein, und also Steine, die sich aus sich selbst heraus miteinander freisprengen einmal im Jahr, zur Wintersonnenwende, befreundete Steine. Steine werden sie hier, Steine im Kreis liegend, Stonehenge aus Menschen, Steinpicknick ohne Essen, Steinritus ohne Handlung, Steinglauben ohne Worte. Steine, steinarm, doch nicht allein für einen Tag, das ist ihr Anti-Atlantis.

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