Ausflug mit Henne Ulla
von Waltraud Gräber
Bei uns war es am Sonntag immer extrem öde. Meine Eltern ruhten sich aus, und ich hatte nichts zu tun.
Deswegen beschloss ich eines Tages, mir selbst ein wenig Abwechslung zu schaffen: Ich setzte unsere braune Henne Ulla in den Lenkradkorb meines Fahrrades – sie ließ das auch mit sich machen, denn sie wusste schon, was dann folgen würde, nämlich ein schöner Ausflug zu zweit – und fuhr mit ihr in den Stadtpark. Um die Sache für mich noch etwas spannender zu machen, legte ich mich trotz der vielen Hinweisschilder ‚Betreten der Rasenfläche verboten‘ mitten auf einer großen Wiese unter einen alten hohen Baum. Die Ulla hatte ich auf ein schönes, weiches Kissen platziert, worauf sie auch brav und zufrieden, dem langweiligen Hühnergehege entflohen zu sein, sitzen blieb und interessiert die Umgebung betrachtete. Es war alles Friede, Freude, Eierkuchen.
Ich sah im Liegen das mächtige Geäst des Baumes. Auf einmal hörte ich von weitem ein lautes Gebell, das immer näherkam. Erschrocken fuhr ich hoch und sah einen kleinen Dackel eilig über die Wiese rennen, direkt auf unsere Idylle zu. Mir schwante nicht Gutes. Henne Ulla hatte sich schon erhoben!! Blitzschnell schnappte ich mir die Ulla und verfrachtete sie in den Lenkradkorb meines Rades. Hier war sie sicher.
Doch der Dackel gab nicht so schnell auf. Er rannte wütend und bellend um das Fahrrad herum. Ulla war in ihrem Korb aufgestanden und blickte auf den immer wütender werdenden Dackel herunter, rührte sich aber nicht aus dem Korb. Als der Dackel sah, dass er an die Henne nicht rankam, stellte er sich mit den Vorderpfoten auf die Speichen des Vorderrades und versuchte, die Ella einzuschüchtern. Das war der Ella jedoch zu viel. Sie flatterte aus dem Korb auf den nächsten Ast des Baumes.
Da kam auch schon die Besitzerin des Dackels keuchend angerannt und rief: „Wasti, Wasti, kommst du her, was soll denn das Platz? Komm sofort her!!“
Wasti unterbrach kurz seine Bellerei, und sie schnappte sich den zappelnden, immer noch keifenden Wasti, blickte mich an, als wäre ich schuld an diesem Desaster, und rief mir dann dann im Weggehen zu: „Aufn Rasn derf ma sich fei net hielegn, Freilein, und scho goarnet mit oana Henna! Nervn ham d`Leit scho!!“
Da stand ich nun da: die Henne auf dem Baum und ich da unten. Guter Rat teuer, wie sollte ich sie runter kriegen? Der Ast, auf dem sie saß, war für mich in unerreichbarer Höhe.
So versuchte ich sie durch gut riechende Wurststückchen meines Wurstbrotes, die ich gegen ihren Schnabel warf, herunter zu locken. Aber sie blieb steif sitzen, zu groß war der Schrecken, den der Dackel ihr eingejagt hatte. Gott sei Dank, dachte ich, war der Dackel schon weg, sonst hätte er noch die Frechheit besessen, die heruntergefallenen Wurststückchen zu fressen, was mich noch saurer gemacht hätte.
Inzwischen hatten sich schon ein paar Schaulustige um mich herum angesammelt, die gespannt die Szenerie mit der Henne beobachteten. Mir war das alles furchtbar peinlich, und es wurde mir noch peinlicher bei dem Gedanken, dass ich vielleicht die Feuerwehr holen müsste, um die Ulla von dem Ast herunterzubekommen.
Dann kam mir jedoch der Einfall, sie mit einem langen Ast von ihrem Platz herunter zu scheuchen. Ich rannte zu einem Baum und riss einen langen Ast ab. Voller Freude über meinen Einfall versuchte ich nun, die Ulla von ihrem Ast zu verscheuchen, aber sie war so verschreckt, dass sie, anstatt herunterzufliegen, auf die nächst höhere Etage flog. Das war nun das Ende für meine Aktion, so hoch oben konnte ich sie unmöglich erreichen.
Verzweiflung kam über mich. Sollte ich doch die Feuerwehr holen? Was dieser Einsatz kosten würde – nicht auszudenken – und was meine Eltern dazu sagen würden?
Inzwischen hatten sich noch mehr Schaulustige angesammelt. Ich blickte ratlos in die Menge der belustigten Leute, als einer meinte, man müsste ein großes Netz über die Henne werfen, und dann hätte man sie. Nach kurzem Überlegen war dieser Vorschlag jedoch nicht realisierbar – wo sollte man am Sonntag so schnell ein Netz herbekommen und von den Anwesenden hatte keiner ein solches dabei. Außerdem hätte sich die Henne in dem Netz total verheddert, es wäre vielleicht am Ast hängen geblieben und hätte die Henne stranguliert.
Hatte denn keiner von den vielen Leuten eine rettende Idee, dachte ich verzweifelt? Plötzlich meinte einer, er könnte seinen Kumpel auf die Schulter nehmen, und danach könnte man mit dem Ast vielleicht die Henne erreichen. Gesagt, getan! Die Ulla beobachtete von oben natürlich alles ganz genau, und, als sich der Mann mit dem Ast näherte, trippelte sie auf dem Ast immer weiter nach außen, bis sich der Ast auf einmal unter ihrem Gewicht nach unten bog und sie das Gleichgewichte verlor. Wild flatternd flog sie auf den Boden und rannte eiligst davon – eir hinten nach.
Wenn wir dachten, dass es nun ein Leichtes wäre, die Henne einzufangen, hatten wir uns getäuscht. Sie rannte wie um ihr Leben, und, immer wenn wir nahe an ihr dran waren, flatterte sie uns davon. So rannten wir quer durch den ganzen Stadtpark der Henne nach, und ich dachte während der Verfolgungsjagd, was für ein lächerliches Bild wir wohl abgaben: Eine Meute von Menschen jagt einer entlaufenden Henne nach.
Irgendwann kam sie an einen großen Teich, an dem sie nicht weiterkam, blieb erschöpft am Ufer stehen, überlegte und lief dann am Ufer entlang einem Gebüsch zu. Dort verkroch sie sich ganz tief im Dickicht.
Das war meine Chance. Ich arbeitete mich vor, bis ich sie erreichte und zog das erschöpfte Tier aus dem Astgewirr.
Die Leute applaudierten, und jeder wollte die Ulla streicheln. Als wir dann den weiten Weg zum Fahrrad zurückgelegt hatten, ließen wir uns erschöpft nieder und aßen den Rest von dem mitgebrachten Wurstbrot.
Von der ganzen Geschichte habe ich nichts zu Hause erzählt. Ein öder Sonntag war dies nicht gewesen, jedoch hatte ich mir einen spannenden Sonntag etwas anders vorgestellt.
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