Ausschreibung „Abschied“: Betreff: SILENCE MAYDAY – Funkstille

Betreff: SILENCE MAYDAY – Funkstille

von Alexa Carola Eberle

Lieber Empfänger,

die Tage, an denen ich auf eine Reaktion von Dir gewartet habe, waren die schlimmsten. Mal waren sie heiß wie die Tränen, die hinter meinen Augen sitzen, mal waren sie kalt wie die Leere in mir. Immer waren es verlorene Tage, die ich aus dem Kalender meines Lebens streichen kann. Verschwendet, in die Luft geworfen und auf dem Boden zerschlagen.

Erinnerst Du Dich? Frankreichs Farben waren anders, blasser. Silbergrau standen dort die Bäume vor dem Himmel. Bis mir auffiel, wie die Zypressen in den Himmel schossen, war es zu spät. Der Moment war vorbei, und ich konnte es Dir nicht mehr zeigen. Du hast zum Autofenster hinaus geschaut, doch die Orte und Landschaften, die vorbeizogen, unterbrochen von Ginstergestrüpp, sahst Du nicht. Ich hätte Dich damals gern gefragt, ob Dir aufgefallen war, wie schnell die Häuser kleiner und quadratischer wurden, je näher wir nach Süden kamen, aber ich habe Dir angesehen, dass Du mir keine Antwort geben könntest.

Mit „Wir müssen das Paper jetzt raushauen!“ hast Du die Stille unterbrochen, Deine Stille, denn Du hattest sie nie mit mir geteilt.
„Dazu brauchen wir noch mehr Daten. Das muss jetzt raus.“

Silence.

Zu meinem Vortrag hast Du nichts gesagt, natürlich. Ich stand neben Dir, als wir Sabine zu ihrem Preis gratulierten. Meine Hände waren dabei so kalt. Und Du in deinem Rausch, zu laut, zu viele Worte, wie zu viel Salz am Essen. Ich neben Dir, ohne Haut, austauschbar, ein Selbstbedienungsladen, aus dem sich jeder immer nahm, was er gerade brauchte. Wir standen vor dem Konferenzgebäude, und im Regen flossen Lichttropfen von der Fassade.

Mayday.

Momentan vermute ich Dich in Berlin. Deine Mundwinkel nach oben gezerrt, inmitten einer Traube von Menschen in Anzügen oder Kostümen. Grell und laut, vermutlich gerade bunt genug für Dich. Ich vermute, Du wirst dich mehrere Tage nicht bei mir melden, bis nach dem Rausch ein Tief kommen wird. Und trotzdem.

Worte können nicht ausdrücken, was es bedeutet, eine so tiefe Sehnsucht für einen Menschen zu empfinden, so tief, dass es einen selbst erschreckt und sich der Körper plötzlich weigert, dieses schmerzende Gefühl anzunehmen. Dieses Ziehen in der Brust, das mir die Luft abschnürt. Ich spüre einen so starken Drang, Dich anzurufen und Dir zu sagen, wie sehr ich mich gerade nach Dir sehne, aber ich habe Angst vor der Ernüchterung. Die Zeit geht vorbei, und ich kann nicht anders als mich zu fragen, ob Du auch an mich denkst. Ich bin so angespannt und wünsche mir, endlich die Tränen weinen zu können, die hinter meinen Augen sitzen.

Ob es Tränen der Wut, Trauer, Traurigkeit oder Erleichterung sein werden? Ich will sie einfach loswerden. Je länger es dauert, umso mehr quält mich die Frage, ob ich mich nicht schützen muss davor, zu sehr in Dir aufzugehen und mich zu sehr nach Dir zu sehnen. Ich wünsche es mir einerseits so, und andererseits möchte ich es einfach löschen können.

Inzwischen kann ich oft erst gegen Abend ruhig arbeiten, wenn das Flakfeuer der E-Mails langsam schweigt und ich nicht bei jedem auftauchenden Mail-Icon nachsehen muss, ob die Nachricht von Dir ist. Tränen schmerzen jedes Mal in meinem Hals, wenn Du mich anrufst und dann mit einem anderen Namen ansprichst. Wenn Du anrufst, um Deine Anliegen zu besprechen, ohne ein Wort, ob es bei mir gerade passt und ohne einmal zu fragen, wie es mir eigentlich so geht. Dein „Ciao“, wenn Deine Stimme mit ihrem leicht engen Klang verrät, dass Du nun verärgert bist, weil ich vielleicht nicht begeistert genug von Deinem Dauer-Ego-Trip mitgerissen wurde. Ich möchte Deine Stimme an meinem Ohr dann einfach nur loswerden, doch sobald ich auflege, klingt sie in meinem Kopf nach und nach und nach und ich spüre, wie ein kalter Wind durch meinen Körper weht.

Mayday.

Könnte ich die ganzen Tränen ausspucken, zusammen mit diesem heißen Klumpen im Bauch, der noch stärker brennt, wenn ich an Deine letzte E-Mail denke. Du wolltest mit mir reden, Du hast mir unterstellt, ein Problem zu haben, und dann sagst Du einfach ab und bist nicht erreichbar. Ich habe kein Problem mit Dir! Bis heute hatte ich keins. Warum machst Du daraus eins? Manche Menschen schaffen es, dass man sich richtig scheiße fühlt, wenn man mit ihnen Kontakt hatte. Verletzt und ohne Haut, ich schäme mich und weiß nicht, warum, ich fühle mich nackt und bin gleichzeitig fassungslos, wie Du das mit mir machen kannst.

Die Welt dringt nicht mehr zu mir durch. Sie prallt ab an meinem Wattekopf, dessen Inneres vollgestopft ist mit Gedanken.

Mayday. Mayday. Mayday.

Jetzt sitze ich hier in einem Studentenwohnheimzimmer, irgendwo in der Peripherie von Alés, wo es nur Altglascontainer und einen Wendehammer gibt. Als ich vorhin den Telefonhörer abhob, rasselten Kleinteile in seiner Plastikverschalung. „Message vocale. Message vocale.“ wiederholte eine französischsprechende Frauenstimme mit einer erschreckenden Tonlosigkeit. Ich habe wieder aufgelegt.

Silence.

Ich denke an das schöne Gefühl, das ich heute Morgen wieder hatte, als ich sah, dass die Häuser immer kleiner und quadratischer wurden, je näher ich nach Süden kam, und dass Rotwein ein schönes, volles Wort ist, das mich beruhigt. Jetzt brennen meine Augen so, dass ich kaum noch schreiben kann. Ich sehne mich nach gestern Abend, als ich in der Maske saß, mit dieser Mischung aus Nervosität und Vorfreude, während ich geschminkt wurde und die Haare hochgesteckt bekam. Und als ich mein Gesicht im Spiegel gesehen habe – es war so schön, ich habe so schön ausgesehen.

Die Momente, in denen ich Dich kurz loslassen kann, sind so beruhigend. Ich fühle mich mir selbst so nah und stark und nicht mehr so gequält und zerrissen. Was sagtest Du bei unserem letzten Telefonat? Du willst gehen? Du fragst mich, was ich dann machen werde? Oder fragst du mich nicht? Ich frage mich, warum, warum jetzt, obwohl ich weiß, dass es keine Antwort und daher auch keine richtige Frage gibt. Du wirst Dich nicht wegen mir für etwas oder gegen etwas entscheiden, und ich weiß, es wird irgendwann leichter sein, etwas gar nicht zu haben, als es nur ein bisschen oder nur manchmal zu haben. Wenn Du gehen willst, dann geh. Vielleicht muss ich diesen Weg einfach ohne Dich gehen. Vielleicht muss einfach ich gehen. Ich wünsche mir Funkstille.

Silence.

Mayday.

Trauer kommt in Wellen, und viele Tage wird die Flut noch durch meinen Körper schwappen. In meinen dunkelsten Minuten werde ich mich damit trösten, dass dies nur das letzte Aufbäumen meiner Sucht ist, der letzte Anstieg, bevor der Gipfel erreicht ist, und es danach nur noch leichter wird. Ich bin überzeugt davon, dass am Ende des Schmerzes Freiheit auf mich wartet.
Ich werde Dir nichts mehr senden.

Silence.  Silence. Silence.

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