Bleibt es dabei?  Drei Monologe über das Buch von Sibylle Berg: GRM. BRAINFUCK

Literaturempfehlung Nr. 2: Sibylle Berg: GRM. BRAINFUCK 

Ein Textbeitrag von Anna W. von Huber

[In einem leeren Klassenzimmer steht auf der Tafel an der Wand folgende Beschriftung]

Wo? Rochdale,UK, ehemalige Kolonialmacht

Wer? Vier Jugendliche Peter Hannah Don und Karen und diverse Seitencharaktere

Was? Realitätsbeschreibung ohne Spannung; monotoner Handlungsspielraum ohne Happy End; dient als Manuskript, weniger als Sci-Fi Roman noch weniger als Dystopie

Wann? ca. 2030

Warum? Unsere Gesellschaft der Nichtigkeit, eine Gesellschaft der zunehmend sich selbst vernichtenden Irrelevanz

 

 Abseits davon im Nachbarort dieses Klassenzimmers findet ein jugendlicher Aufschrei in einem Einfamilienhaus, gediegen und ruhig, statt. Mathilde und ihr Ritual vor und nach dem Aufstehen, morgens und abends. Ich werde sie die suchend Enttäuschte nennen.

 

I. Die suchend Enttäuschte

Und jetzt? Was kommt jetzt? Höre ich bald auf diese Fragen zu stellen? Weil sie nicht pragmatisch, schnell und sauber genug sind? Was kommt danach? Nach der gemütlichen rundum Diktatur, dem Spießbürgertum. Was kommt, wenn wir durch Algorithmen durchstrukturiert werden? Wenn sie unsere Freiheit unseren Handlungsspielraum durch subjektive Datenanalyse einkalkulieren? Wenn sie ihre Wissens – und Machtstrukturen gebrauchen, um unsere menschlichen Netzwerke zu programmieren und zu erneuern durch ihre obskure Eigenständigkeit?

Wer hat dann eigentlich Zugriff auf unsere menschlichen Daten? Wenn die Geschichten von Black Mirror unsere erzählten Geschichten sind?

Warum klärst du mich nicht auf? GRIME, die Musik, die in meinen Ohren tönte, wo bleibt sie nun? Wo bleibt das Dagegen, das Anti, auf das ich dein Buch setzte? Deine Worte, die aussprachen und dabei eine Realität beschrieben und zwar, das da draußen. Das, was real war, was viel zu viele nicht mehr sehen können, weil sie abgestumpft vor sich hin-plätschern, weil sie zu alt und schwach, zu langweilig, zu bürgerlich sind. Einfach zu angepasst!

Das war es, was du mir zeigtest und die Hoffnung blieb, die Hoffnung auf etwas Anderes, irgendetwas. Was nun? War das zu viel verlangt? Wolltest du das nicht? Wolltest du mir damit den letzten Funken an ideellem Dasein an einer Auflösung dieses ganzen Scheines geben? Mit dir und Demonstrationen, Demonstrationen, die dagegen sind und mit GRM hatte ich gedacht weiter zu gehen, weiter zu stören bis sich endlich was verändern würde, bis wir bewegen könnten.

Eine Art Lehrbuch dachte ich. Ein Lehrbuch das auf Punk beruht, auf einer Musik die uns endlich schreiend zuhört!

Irgendwie hatte ich es anders erwartet. Das Ende. Einen Aufstand der anderes verlaufen würde, hatte ich zuvor noch Jean Zieglers Bücher verschlungen und jetzt das. Wohin damit? Was willst du mir damit sagen? Was willst du mir mitteilen? In meinem elterlichen Zimmer lesend, mich anfangs von allem einsaugend, aufsaugend was auf diesen Seiten stammt, folgt als Ende dieser Revolution schlimmer als der Widerstand, schlimmer als das Nichts, schlimmer als Alles, das…

 Die 16-jährige Mathilde fällt vor lauter Wut und schreienden anstrengenden Worten auf ihr Bett und schläft ein, während ihre Mutter mit ihren Kollegen über das sogenannte Buch in einer gediegenen Mittagscafésitzung, nach und zwischen der Arbeit versteht sich, über die Relevanz des sogenannten Buches diskutiert:

©Kiepenheuer&Witsch

 

Sibille Berg, GRIM. BRAINFUCK, Roman, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 1. Auflage, ISBN: 978 – 3 462- 05143 – 8, Pappband, 640 Seiten,  25,00 Euro.  https://www.kiwi-verlag.de/buch/grm/978-3-462-05143-8/

 

 

 

II. Was kann das Buch?

In welcher Welt wollen wir eigentlich leben? Wie wollen wir die Welt sehen? Wie können wir die Welt sehen, als wahrnehmen, die uns umgibt?

Und was passiert, wenn wir dystopisch von einer Zeit sprechen, die nicht in der Zukunft zu liegen glaubt, sondern sich im gegenwärtigen Prozess befindet? Einer Zeit, die vielleicht zehn Jahre entfernt von der Aktuellen liegt? Die nicht erst eintreten muss, sondern in Bereichen bereits stattfindet. Die nicht wie dystopische Romanwerke darauf beruht, die Zukunft, wie sie nicht strahlt zu verneinen, sondern den gegenwärtigen Prozess darzustellen. Eine Welt einer scheinbaren Dystopie, weil sie, die Realität, grausam und abgestumpft, dargestellt wird?

Bergs GRM beschreibt. Detailliert und echt. Ohne Scham, ohne scheinbare Empathie. Sie beschreibt auf eine Art, wie sie von einem algorithmisierten Roboter stammen könnte. Das macht dieses Buch so besonders. So spannend. Sie schreibt, im Stil wie das, das scheinbar kritisiert wird. Und dennoch eine Kritik, die auf einer Beschreibung und auf Zynismus beruht und nicht neue Forderungen stellt. Kein Zurück mehr, aber auch keine Neuentwicklung, keine Orientierung, keine Forderung zum Humanismus. Es bleibt und verändert sich ein bisschen und geht wieder dahin zurück. Das Buch plätschert vor sich hin. Doch vielleicht ist gerade das der Reiz daran – das Un-Laute.

Ab und an treten Seitencharaktere auf. Bedeutend für das Verständnis der vier Jugendlichen. Alle haben Schlimmes erlebt. Alle sind betroffen von den moralisch und ethischen Ausfällen dieser Gesellschaft, die Sybille Berg auf detaillierter und beobachtender Meisterhaftigkeit erläutert. Was nicht fehlt ist ihr Sarkasmus.

Der Bruder, der sich mit Freunden ebenso auf einen Kaffee zuhause mit selbst gemachten Kuchen verabredet, ist begeistert davon über Bücher und Romane zu sprechen und beginnt das Gespräch. 

 

III. Literatur und Dystopie

Fragt man nach der Literatur, so scheint dies kein Sci- Fi Roman zu sein, noch weniger eine Dystopie. Dystopie als eine Beschreibung eines negativen Nicht- Ortes. Ein Ort der nicht existiert, erfunden und negativ ist. Doch Bergs GRM existiert. Die Beschreibungen sind real. Es fehlt das große Szenario, die große Veränderung, irgendwas, das bricht, zusammenfällt und sich auf eine andere weiß neu errichtet.

In Bergs Roman bricht sehr vieles, doch auf so offensichtlich in Sekundentakt auftretender wiederholender Art, dass man fast schon dazu aufgefordert wird es zu vergessen, abzustumpfen und es nicht mehr wahrzunehmen, diese Grausamkeit, diese menschliche Abart, in der wir uns täglich befinden.

Was bleibt da eigentlich noch? Am Ende?

Was bleibt dann noch? Wenn die Empathie festgehalten nicht festzuhalten ist, weil sie zerstört wird von der rasenden nächsten auftretenden Vernichtung. Was bleibt dann noch, wenn all das entgleitet?

Eine Dystopie, die sich selbst zerstört, weil sie keine sein kann. Zu lesen ist dieses Buch, nicht als Dystopie. Darin fehlt es an überzeugenden und ausgefeilten Charakteren. Doch sobald ich dieses Buch als Manuskript in der Hand hielt, machte es mehr Sinn. Dann gab es kein Problem mehr mit dem Sarkasmus, mit ihrem Zynismus. Ein Manuskript das realistisch und pointiert aufzeigt, das was da ist. Und nicht fordert, nicht belehrt, nicht sprengt, wie es fälschlicherweise mit dem Untertitel: Brainfuck angenommen wird.

Ein Manuskript, das uns durch eine reine Realitätsbeschreibung, die ermüdet, die Realität aufzeigt und uns auffordert eigenständig Dinge zu verändern und nicht in einem amor fati zu verharren. Vielleicht ist es das?

 

Die Autorin

Bergs Buch ist wahr. Sie beschreibt die Realität in einem auf den ersten Blick als dystopisch erscheinenden sich zynisch ausbauendem Roman. Ein Manuskript eines Zynismus der Macht in seiner vergleichenden Irrelevanz verhaftet.

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