Damit wir sie nicht auch noch verlieren
Gertrud Kolmar, Liebesgedichte, Insel Verlag, Berlin 2010, 108 S., ISBN 978-3-458-35301-0, Insel Taschenbuch 3601
Gertrud Kolmars Tod jährt sich in diesem Jahr zum siebzigsten Mal. Sie wurde am 10.12.1894 in Berlin als erste Tochter in ein konservativ-jüdisches und kaisertreues Elternhaus geboren. Ab 1941 musste sie Arbeitsdienst in der Rüstungsindustrie leisten, im März 1943 kam sie nach einer Deportation nach Auschwitz in der Gaskammer um.
Gertrud Chodziesner, die den Künstlernamen „Kolmar“ wählte, nach dem deutschen Namen der polnischen Stadt Chodzież, veröffentlichte ihren ersten Gedichtband im Jahr 1917 und den zweiten 1934 in der Mainzer Rabenpresse von Victor Otto Stomps. Ihr 3. Band „Die Frau und die Tiere“ konnte 1938 nur noch unter ihrem richtigen Namen Chodziesner in einem jüdischen Verlag erscheinen und wurde in der Reichsprogrammnacht eingestampft. Wir verdanken es ihrer Schwester Hilde und deren Mann Peter Wenzel, dass ihr Werk nicht in Vergessenheit geriet.
Der vorliegende Gedichtband enthält eine Auswahl der Liebesgedichte von Gertrud Kolmar sowie eine Hinführung zu Leben und Person der Dichterin, die zum halben Dutzend großen deutsch-jüdischen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts zählt und durchaus in einem Atemzug mit Else Lasker-Schüler, Rose Ausländer und Mascha Kaléko genannt werden kann. Sie ist sicherlich die am wenigsten bekannte unter ihnen.
Dass dieser Band an dieser Stelle eine Widmung erfährt, hat durchaus mit der Beteiligung des Herausgebers an der Mainzer Minipressen Messe 2013 und 2015 zu tun, noch unter anderer Flagge. Diese Teilnahme wird zugetextet.com im Jahr 2017, sollte die Minipresse wieder stattfinden, sicherlich wiederholen. Auch wird sich zugetextet.com für den V.O.Stomps-Preis bewerben.
Es geht an dieser Stelle um mehr, um viel mehr: Die moderne deutschsprachige Lyrik ist ohne diese Frauen und ohne die deutsch-jüdischen Schriftsteller, die allesamt der Verfolgung durch das Dritte Reich ausgesetzt waren, nicht denkbar. Man kann sogar weitergehen und die Behauptung aufstellen, dass ohne sein jüdisches Element das deutschsprachige Geistesleben und seine Wissenschaft nicht denkbar sind.
Daher ist es die Aufgabe, sich dieser Tradition immer wieder zu bemächtigen. Es geht dabei um Sprache, Bilder, Metaphern, Erfahrungen und Weisheiten, die für die Gestaltung der Zukunft von unermesslichem Reichtum sind und einen Schatz darstellen, den wir uns in unserer Sprache, in unserer Dichtung, unserem Denken und unserem Fühlen bewahren und dessen wir uns stets neu versichern müssen; zugleich schlagen wir dem abgrundtief Bösen, das sich in den Schergen des Nazireiches und in der Ideologie des Nationalsozialismus manifestiert, ein geniales Schnippchen. Wir erreichen nämlich, dass das, was die Mörder der Shoah wollten, die Ausrottung jüdischen Lebens in Deutschland, in jeder Hinsicht Makulatur wird und wir uns diesen so wichtigen Teil unseres Herkommens erhalten, ihn mit neuem Leben erfüllen und der Zukunft weitergeben können.
Die in diesem kleinen Band versammelten Liebesgedichte breiten – neben dieser reichen Bildertradition – zugleich das Leben und Fühlen einer selbständigen, sich in schweren Umständen behauptenden unabhängigen Frau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Wer sich diesen Worten und denen ihn ihnen beschriebenen Ängsten, dem Leiden und dem Lieben entziehen kann, braucht ein hartes Herz. Allein die Liebessonette gehören zum bilderreichsten und überzeugendsten, was der Rezensent bisher hat lesen dürfen.
Wer für seine Liebesgedichte Inspiration sucht, dürfte in diesem Band eine Quelle finden. Aber auch die, die ins Zentrum der deutschen Moderne, in deren Ingredenzien, eindringen wollen, könnten dort eine der Einlasstüren für ein besseres Verständnis des eigenen Seins, Denkens und Fühlens finden.
Netfinder:
http://www.suhrkamp.de/
http://de.wikipedia.org/wiki/Gertrud_Kolmar
zu Viktor Otto Stomps:
http://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Otto_Stomps
http://www.minipresse.de/vo_stomps.php
Weltweitweb, im Mai 2013
Walther