Der Junge hinter dem Gartenzaun
Kurzprosa von Nadine Baumann
Anna erinnert sich nur bruchstückhaft an ihre Zeit im Kindergarten. Spielen, basteln, viele andere Kinder. Eine Erzieherin liest aus einem Buch vor, ihren Namen weiß sie heute nicht mehr. Ein Spielplatz, den der Junge von nebenan nicht betreten darf, weil er nicht dazu gehört. Weil er nicht von hier ist, sondern von weit weg, weiter als der Blick über den Gartenzaun reicht, hinter dem er steht. Weil er nicht dieselbe Sprache spricht. Als ob Sprache in diesem Alter wichtig wäre.
Anna weiß nicht, was aus ihm geworden ist. Sie weiß es auch bei vielen anderen Kindern nicht, aber bei diesem Jungen würde es sie interessieren. Hat ihn die Ausgrenzung damals traurig gemacht oder wütend? Hat er verstanden, warum er nicht zu den anderen Kindern durfte? Nicht mit ihnen spielen, lachen, toben, sondern nur über den Gartenzaun schauen, und auch von dort wurde er vermutlich vertrieben.
Oft hatte er jedenfalls nicht dort gestanden in Annas Erinnerung. Aber sie weiß nicht, was mit ihm passiert ist, wird es nie erfahren. Sie kennt nicht einmal seinen Namen. Ob sie ihn damals gewusst hatte? Vermutlich nicht. Was hätte es auch geholfen. Er war der auf der anderen Seite des Zaunes, mehr wusste sie nicht.
Heute kennt sie den Namen jedes ihrer Schützlinge. Und sie weiß, aus welchen Ländern sie stammen. Najim aus Syrien. Sahar aus dem Irak. Jabari aus Somalia. Die Brüder Feroz und Sajad aus Afghanistan. Anna spricht die wichtigsten Worte in ihren Sprachen. Wie heißt du? Woher kommst du? Bitte und Danke. Es ist ihr wichtig, dass sie sich bei ihr zuhause fühlen.
Deshalb hat sie diese Worte auch den anderen Kindern aus ihrer Kitagruppe beigebracht. Denen von dieser Seite des Gartenzauns. Damit sie das Tor öffnen und ihre neuen Freunde hineinlassen können.
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