Der Kollege aus Rudorf
Geschichte von Katharina Harnisch
Der Kollege aus Rudorf hatte sich als Plagegeist in meinem Leben eingenistet. Immer wenn ich meiner Mutter ein neues Medikament verschrieb, rief er an. Als ob ihr Gefahr drohte! Ich habe bis heute nicht herausfinden können, was dieser Arzt mit meiner demenzkranken Mutter zu tun hatte.
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Fast jede Woche meldete sich der Kollege aus Rudorf, entweder per Telefon oder per E-Mail. Wie kam der überhaupt dazu, sich in meine Verordnungen einzumischen? Diese Ärzte vom Dorf scheinen ein Selbstwertproblem zu haben.
Anfangs kritisierte der Kollege aus Rudorf meine Absicht, unsere Mutter in einer guten Seniorenresidenz unterzubringen. Er meinte, wir sollten uns um Möglichkeiten einer ambulanten Betreuung kümmern. Unsere Mutter wolle in ihrem Haus bleiben. Auf keinen Fall werde sie ins Altersheim umziehen.
Die Vorsorgevollmacht hat sich mein Bruder Linus erschlichen. Anders kann ich mir die Entscheidung meiner Mutter nicht erklären. Sie macht mit ihm den Bock zum Gärtner. Ausgerechnet Linus! Dieser Chaot hat keinen Schimmer davon, was Altwerden bedeutet. Warum beauftragt sie nicht mich, in Zukunft für sie zu sorgen? Als Arzt kenne ich mich aus. Ich weiß, was alte Menschen brauchen, die nicht mehr allein leben können. Das ist mein täglich Brot. Ein Anruf beim Betreuungsgericht genügt. Und schon wird die Entmündigung eingeleitet.
Diese verflixte Vollmacht muss aus der Welt geschafft werden, egal wie. Zuerst habe ich erwogen, für ungültig erklären zu lassen, was meine Mutter entschieden hatte. Sie war bereits dement, als sie Linus die Vollmacht erteilte. Der Kollege aus Rudorf bestreitet das. Woher will der das wissen? Meine Patientenkartei lügt nicht.
Oder wir hätten das Dokument verbrennen sollen – am Besten in einem gemeinsamen Geschwister-Ritual. Der Kollege aus Rudorf behauptet, sowas sei strafbar. Der spinnt doch. Die Vollmacht gehört Linus. Wenn der das Papier vernichtet, so ist das seine Sache.
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Wie ich meinen Schulfreund Matthes Müller beneidet habe! Seine Mutter hat bereits vor Jahren freiwillig den Umzug ins Pflegeheim durchgezogen. Das Jugendstilhaus in der Schillerstraße hat sie ihren Kindern zum Verkauf überlassen. Die haben ganz schön Kohle gemacht.
Meine Mutter müsste dagegen dringend in ein Pflegeheim, notfalls gegen ihren Willen. Dort könnte sie gefahrlos vor sich hin dämmern. Sie geht schon auf die Neunzig zu. Aber ihr Lieblingsspruch lautet immer noch: Kommt Zeit, kommt Rat.
An ihre Erben denkt sie sowieso nicht. Der Verkauf der Hütte würde uns eine willkommene Finanzspritze bescheren. Meinen Schuldenberg muss ich ja irgendwann abtragen, je eher desto besser.
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Meine Frau hat Lebensstil. Sie kennt die besten Feinschmeckerlokale in der Umgebung. Unser Haus richtet sie geschmackvoll ein, natürlich nach den aktuellen Trends. Zu gern möchte ich den Kollegen aus Rudorf zu uns einladen. Der würde staunen.
Meine Frau entwickelt klare Vorstellungen, wenn es um unser Outfit geht. Der neue Pullover, den sie mir gestern mitgebracht hat, ist von echter Designer-Qualität. Als Arzt muss ich standesgemäß gekleidet sein. Dafür hat meine Frau immer gesorgt.
Meine Frau schiebt alle Skrupel beiseite. Sie entlastet mein Gewissen, wenn ich wieder einmal vergeblich versuche, meine Mutter zum Umzug in ein Altersheim zu überreden: Unsere Eltern haben ihr Leben gehabt. Jetzt sind wir dran. Wir können nicht warten, bis deine Mutter hundert wird. Wir brauchen Geld. Wir leben jetzt.
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Mein Bruder aus dem Badischen denkt genauso wie wir. Ihm ist eine List eingefallen: Wir bringen Mutti unter einem Vorwand zur Kurzzeitpflege in ein Seniorenheim, damit sie sich an das neue Umfeld gewöhnt und ihre Vorurteile dagegen überwindet. Wenn das nicht klappt, können wir sie immer noch da ‘rausholen.
Mir gefällt die Idee. Ich bin sicher, meine Mutter wird in kürzester Zeit ihr Leben im eigenen Haus vergessen haben.
Der Kollege aus Rudorf hat unseren Plan mal wieder durchkreuzt, hat Druck gemacht, sogar einen Anwalt und das Gericht eingeschaltet und obendrein noch einen Kontrollbetreuer durchgesetzt.
Jetzt haben wir die staatliche Aufsicht am Hals. Das ist das Letzte, was wir brauchen. Einen Verkauf der Immobilie können wir uns vorläufig von der Backe schmieren. Wie soll ich diesen Kontrolleur von der Notwendigkeit überzeugen, meine Mutter müsse in einem Altersheim leben! Sein Credo lautet: ambulant vor stationär!
Was solch eine ambulante Pflege kostet! Die Rente reicht dafür nicht. Meine Mutter wird ihr Sparvermögen plündern müssen.
Und die vielen Pflegerinnen, die inzwischen im Hause meiner Mutter ein- und ausgehen! Ob die mitunter etwas mitgehen lassen? Eine Demenzkranke merkt das ja nicht.
Was kann passieren, wenn Fremde sich Zugang zum Haus meiner Mutter verschaffen! Nicht auszudenken, wenn sie mit ihrem wirren Geist Verträge schließt, die sie finanziell ruinieren! Mir ist das alles unheimlich. Vor derartigen Gefahren wäre sie im Heim sicher.
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Neuerdings setzt mich mein Bruder aus dem Badischen unter Druck. Er fordert: Du bist doch Arzt. Mach endlich was!
Dann spielt er regelmäßig auf meine “Hexenküche” an. Der denkt wohl, mit Medikamenten wüsste ich nicht umzugehen! Natürlich kann man mit Pillen einiges bewirken. Niemand weiß das besser als ich. Andererseits trage ich die Verantwortung, wenn ich einem Patienten ein Medikament verschreibe.
Könnte ich ein Mittel gegen Halluzinationen für meine Mutter rechtfertigen? Die Schatten auf ihrer Eingangstür deutet sie als spielende Kinder, das Gurgeln in den alten Rohren im Keller als fremde Stimmen und die Lichtreflexe auf den Metalllamellen ihrer Jalousien als Licht von Einbrechern, die draußen auf dem Balkon auf ihre Chance lauern.
Medikamente für die Nerven machen müde. Manche Patienten schlafen nur noch, wenn sie dieses Medikament schlucken. Die Pflegerinnen im Altersheim, mit denen ich zu tun habe, sind ganz wild auf meine Rezepte. Damit können sie ihre Bewohner ruhig stellen. Bei meiner Mutter müsste das Zeug genauso wirken: Sie würde viel schlafen und weniger Angst haben. Wenn nur der Kollege aus Rudorf mir nicht wieder in meine ärztlichen Entscheidungen ‘reinredet!
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Er hat wieder angerufen, der Kollege aus Rudorf. Diesmal behauptet er, meine Mutter dürfe ein Medikament zur Beruhigung der Nerven auf keinen Fall nehmen. Wegen ihrer Herzerkrankung sei sowas für sie lebensgefährlich. Ihr Sterberisiko steige durch die Einnahme auf das Dreifache.
Halbwissen vom Beipackzettel! Kein Medikament ist ohne Risiko! Ich weiß, was ich tue. Ich habe dem Kollegen meine Entscheidung genau erklärt: Meine Mutter ist auf das Mittel angewiesen, denn sie leidet unter Halluzinationen.
Der Kollege aus Rudorf hielt mir entgegen: Nein. Ihre Mutter sieht und hört, was jeder andere auch sieht und hört. Aber sie kann das Wahrgenommene nicht mehr richtig deuten. Das sind Illusionen, keine Halluzinationen.
Dieser Wichtigtuer! Von psychologischen Dingen hatte der doch keine Ahnung.
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Was der Kollege aus Rudorf am vergangenen Wochenende inszeniert hat, ist wirklich das Letzte. Er hat einen medizinischen Notfall vorgetäuscht. Den Notarztwagen habe er rufen müssen, nachdem sich meine Mutter mehrfach übergeben hatte. Sie habe nicht mehr richtig atmen können. Schuld sei meine Anweisung gewesen, die Dosis des Blutdruckmittels ohne Übergangszeit zu verdoppeln.
So ein Unfug! Das mit der Atemnot glaube ich einfach nicht. Als ich nach dem Protokoll fragte, hieß es, da sei keins. Das war gelogen. Nach einem Notfalleinsatz keine ärztlichen Dokumente hinterlassen – das gibt es nicht. Ich weiß, wie sowas läuft. Der Notarzt fertigt immer ein Protokoll an. Das bleibt im Haus oder an der Unfallstelle, damit der Hausarzt über das Geschehen informiert werden kann. Ganz klar: Wenn es kein Protokoll gibt, dann gab es auch keinen Notfalleinsatz.
Aber wenn doch ein Protokoll existiert? Es darf auf keinen Fall in falsche Hände geraten. Der Hausarzt meiner Mutter muss nicht unbedingt erfahren, wie ich das mit der Dosiserhöhung gehandhabt habe. Sie könnte durchaus Erbrechen und Atemnot bei meiner Mutter verursacht haben. Ich kann das nicht ausschließen. Im Heim wäre sowas nicht passiert.
Warum kümmert sich der Kollege überhaupt um meine Mutter? Ihr Arzt bin doch ich! Überall taucht dieser Besserwisser auf und zündet Nebelkerzen. Ich kenne den Mann überhaupt nicht.
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Meine Praxis liegt im Stadtzentrum. Sie läuft gut. Das Wartezimmer ist jeden Tag voll. Junge und alte Patienten vertreiben sich die Zeit. Einige spielen mit ihrem Smartphone oder vertiefen sich in die bereitliegenden Zeitschriften. Andere dösen vor sich hin. Die Kindergärtnerin mit der Rechteckbrille, die seit Jahren zu mir kommt, sieht mich noch immer mit weit aufgerissenen Augen an, während ich für sie die Spritze mit dem Nervenmittel aufziehe.
Ich weiß nicht, was gestern mit mir los war. Meine Hände zitterten diesmal. Irgendwie wollte mir nicht gelingen, was ich als Arzt sonst täglich tue. Die Spritze rutschte mir aus den Händen. Der entblößte Arm meiner Patientin verschwamm vor meinen Augen. Ich musste ins Freie rennen und tief Luft holen. Sonst wäre ich ohnmächtig geworden.
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Meine Mutter lebt noch immer in ihrem Haus. Der Kollege aus Rudorf scheint ihren Umzug ins Altersheim zu verhindern. Ich werde mit ihm sprechen. Im Telefonbuch habe ich ihn jedoch nicht gefunden, weder im Festnetzverzeichnis noch in den Gelben Seiten.
Heute bin ich hingefahren. Irgendwie war ich neugierig auf diesen Typen. In Rudorf habe ich einige Dorfbewohner nach der Arztpraxis gefragt. Sie haben die Schultern gehoben und mich verständnislos angeguckt. Die Auskunft lautete einmütig: Wir haben in unserem Dorf leider keinen Arzt.
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