Der Park
von Regina Appel
Dumpf schlug der nasse Kiesel gegen das Auto. Das Rauschen der Steine mischte sich mit den Regentropfen, die gegen die Windschutzscheibe prasselten. Wären wir nicht seit knapp einer Stunde innerhalb der Sicherheitskontrollen unterwegs gewesen, hätte ich die gleichmäßigen Geräusche als beruhigend empfunden.
„Schade, wegen des schlechten Wetters“, entschuldigte sich der Verwalter, der neben mir auf der Rückbank saß. Dabei ruhte sein Blick auf mir. Er war ein attraktiver Mann. Markantes Gesicht. An den Schläfen grau. „Dafür wird die Stimmung einzigartig sein.“, fügte er hinzu. Ich lächelte.
Monatelang stand ich mit ihm in Kontakt. Monatelang versuchte ich eine exklusive Reportage über das gerüchteumwobene Projekt zu ergattern. Die Zusage des medienscheuen Unternehmens erreichte mir per Post. Ich wusste, der Verwalter benutzte mich, um an die Öffentlichkeit zu gehen. Doch ich war mir sicher, ihm war klar, dass auch ich ihn benutzte, um meine Karriere in Gang zu bringen. Die Marketingabteilung des Unternehmens verstand ihr Handwerk. Seit zwanzig Jahren schotteten sie eine ganze Region von der Außenwelt ab. Keine Information über das Geschehen im Inneren drang nach außen. Doch nun war man bereit, eine Sensation zu veröffentlichen. Ich mochte Sensationen. Was ich hingegen nicht mochte, war, enttäuscht zu werden. Die Inszenierung ließ mich hoffen. Als ich den Verwalter an der Sicherheitskontrolle getroffen hatte, mein Gesicht gescannt worden war und ich zum Auto gebeten wurde, beantwortete er keine meiner Fragen. „Alles zu seiner Zeit“, sagte er. Jeden Kilometer, den wir hinter uns brachten, weiter hinein, in die Zone, durch den dichten Wald, steigerte meine Aufregung.
Eine hügelige Landschaft entblößte sich vor uns. Wieder spürte ich den Blick des Verwalters auf mir. Neugierig, ob meiner Reaktion. Den Gefallen, meine Ungeduld zu zeigen, machte ich ihm nicht. Ich blickte weiter aus dem Fenster.
Kurz darauf hob er seine Hand. Der Fahrer hielt an.
„Den Rest gehen wir zu Fuß.“, sagte er, stieg aus und öffnete mir die Tür. Wir spazierten los.
„Umgeben von nichts“, sagte ich als ich das Auto aus dem Blickfeld verlor. „Ich denke, es ist an der Zeit das Geheimnis zu lüften.“
„Vorher möchte ich mich für Ihre Geduld und Ihren Mut bedanken. Nicht jeder hat den Schneid, sich auf ein Abenteuer einzulassen, ohne zu wissen, wo es hingeht.“, sagte er.
Das mulmige Gefühl, das ich bis dahin erfolgreich unterdrückt hatte, presste sich nun gegen mein Zwerchfell.
„Wie Sie wissen, haben wir jahrelang gewartet, um an die Öffentlichkeit zu gehen. Die Unternehmensführung hat entschieden: Es ist soweit. Die Menschen sind bereit. In den letzten Jahren haben sich entsetzliche Gerüchte verbreitet, von UFO-Landeplätzen, Vertuschung von missglückten biochemischen Experimenten bis hin zu extravaganten Genmanipulationen. Doch das ist alles falsch. Sehen Sie sich um! Wir verschlechtern die Welt nicht. Wir verbessern die Welt nicht. Wir halten sie an!“, rief der Verwalter und breitete die Hände aus.
Er musste seine Worte einstudiert haben, denn in diesem Moment öffnete sich vor uns der Blick auf ein breites Tal. In der Mitte lag eine Stadt. Der Kirchturm ragte auf, umrahmt von prächtigen Häusern. Erst nach einigen Sekunden erkannte ich den Fehler in dem idyllischen Bild. Aus keinem Schornstein trat Rauch, die Autos standen still. Keine Menschen waren zu sehen. Keine Bewegung. Kein Leuchten. Kein Blinken. Totenstille.
„Sie haben etwas anderes erwartet, nicht wahr?“, fragte der Verwalter und trat näher an mich heran. „Hier ist niemand. Keine Menschenseele. Nur Sie und ich. Und natürlich unser Fahrer, der im Wagen auf uns wartet.“, flüsterte er.
Ich zog die Kapuze meiner Regenjacke nach hinten und sah ihm in die Augen: „Sie wollen mir also erzählen, dass Sie ein fruchtbares Gebiet der Größe Andorras mitten in Europa seit 20 Jahren sich selbst überlassen?“
Sanft berührte er meine Schulter.
„Ich lag richtig damit, Sie auszuwählen.“, sagte er. Mit ruhiger Hand wies er mir den Weg hinunter in die Stadt.
„Ihr kritischer Unterton ist mir nicht entgangen. Ich kann es Ihnen nicht verübeln. Doch Ihre Ansicht ist kurzsichtig. Die Menschen auf diesem Planeten vermehren sich unaufhaltsam. Es wird eng. Die romantische Vorstellung des einsamen Wolfes verkommt zum Mythos! Die Menschen sind einsam, aber nie allein. Wie sollen wir denn je einen anderen Planeten besiedeln, wenn wir nicht wissen, wie sich die absolute Abschottung anfühlt?“, fragte er.
Noch einmal hob er seine Arme: „Das ist unser Angebot!“
Ich unterdrückte ein Lachen. War es die grenzenlose Enttäuschung meiner hohen Erwartungen? Oder hatte mich der Wahnsinn der Einsamkeit nach kürzester Zeit erfasst? Um vor allem mich selbst abzulenken fragte ich: „Ihr Angebot? Für wen? Aussteiger? Überlebenskünstler?“
„Alle Menschen sind sensationshungrig. Endlos auf der Suche nach dem nächsten Kick. Und sie sind bereit, dafür zu bezahlen. Genau diesen Hunger stillen wir.
Doch es ist nicht nur die Einsamkeit. Wir eröffnen den Blick auf die Vergänglichkeit der Menschheit. Die Bevölkerung, die einst hier lebte, wurde umgesiedelt. Nur, was die Bewohner am Leibe trugen, verließ die Zone. Keine Sorge, sie wurden angemessen dafür entschädigt. Diese Ausgaben werden sich rentieren, wenn der erste Echtzeitpark seine Tore öffnet!“, sagte der Verwalter.
„Renovierungsarbeiten werden nicht anfallen. Je länger das Areal auf sich alleine gestellt ist, desto aufregender wird es für die Besucher.“
Wir hatten den Hauptplatz erreicht. Eine gespenstische Stille umhüllte mich. Kinderwägen lagen auf der Straße, Unkraut wucherte auf Balkonen, die zerrissene Plane eines Markstands flatterte bedrohlich im Wind.
Wo war ich hier gelandet? Obwohl ich mich im Nirgendwo befand, umgeben vom Nichts, schien mich eine Informationsflut zu überrollen. Ich war unfähig, meine Gedanken, richtig einzuordnen.
„Darf ich mich umsehen?“, fragte ich, „alleine?“.
„Ich bitte darum. Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie wollen. Ich warte in der Kirche auf Sie.“, sagte er.
Ich blickte ihm nach. Als er das Tor hinter sich schloss, öffnete sich mir eine neue Welt. Mit langsamen Schritten bewegte ich mich über den Platz. Meine Schuhe hinterließen Fußabdrücke auf dem nassen Boden. Der Regen löschte sie in wenigen Augenblicken aus.
Die hohen Fenster eines Cafés luden mich ein. Die Sessel standen ordentlich an die Tische gerückt – jederzeit bereit Gäste zu empfangen. Ich fühlte mich willkommen. Der Charme der verlassenen Räume umgarnte mich, hielt mich fest. Mit weißer Kreide war das Angebot des Tages an die Tafel geschrieben. Ein Tag, der lange zurück lag. Wer die Person mit der schönen Handschrift wohl war?
Doch es war mir nicht genug. Ich wollte mehr. Wollte weiter eintauchen in eine Welt, die es nicht mehr gab.
Ich stieg die flachen Stufen des Treppenhauses hoch. Bis ganz nach oben. Ich betrat eine Wohnung. Die Tür war nicht verschlossen. Ein Blick auf die Kommode beantwortete mir die Frage, welche Menschen hier gelebt haben mussten. Herrenschuhe, Damenschuhe, Turnschuhe. Winzige Kinderschuhe. Das Café war nur der Brotkrumen gewesen.
Die Möbel waren verstaubt, aber in gutem Zustand. Der Regen war kaum noch zu hören. Ich schloss die Augen. Wartete. Als ich sie wieder öffnete, sah ich sie. Die Menschen. Sie saßen am Esstisch. Sie drängten sich auf der Couch zusammen, um gebannt in den Fernseher zu starren. Geschirr klapperte in der Küche. Die Betten waren zerwühlt. Wenn ich hineingriff, wären sie noch warm?
Im Zimmer eines Mädchens verharrte ich. Poster zierten die Wände. Auf dem Schreibtisch lagen aufgeschlagene Bücher und Hefte. Ich erkannte Gegenstände wieder, die auch ich in meiner Jugend besaß. Kannte ich die Frau, die dieses Mädchen gewesen war? Sie musste in meinem Alter sein.
Die Verlockung war zu groß. Ich öffnete die Schubladen. Ein Stoß Briefe. Ich begann zu lesen. Kindliche Erzählungen adressiert an Freundinnen. Und die ersten zaghaften Versuche, Liebe in Worte zu fassen.
Traurigkeit übermannte mich. Ich musste schlucken. Traurigkeit, die von Schuld abgelöst wurde. Hatte ich das Recht, in das Leben eines anderen Menschen dermaßen einzudringen? Hatte ich eine unumkehrbare Grenze überschritten?
Ich musste raus. Raus aus dieser Wohnung, raus aus dieser Stadt, raus aus diesem Park. In der Tür hielt ich an. Regungslos stand ich da. Ich drehte um und nahm die Briefe an mich.
Ich lief durch die Straßen. Der Regen vermischte sich mit meinem Schweiß. Erst als ich mich körperlich erschöpft fühlte, kehrte ich zum Hauptplatz zurück. Bevor ich in die Kirche trat, blickte ich mich noch einmal um. In mir war der Wunsch, die Unwirklichkeit in mich aufzunehmen.
Der Verwalter saß in einer Bank. Sein Blick war zum Altar gerichtet. Ich setzte mich neben ihn.
„Ihr Angebot ist nicht die Einsamkeit oder die Vergänglichkeit der Menschheit. Sie verkaufen die Erinnerungen lebender Menschen. Ihre Besucher konsumieren vergangene Schicksale“, flüsterte ich.
„Meinen Sie, es wird funktionieren?“, fragte er.
„Ihr Geschäftsmodell ist an Geschmacklosigkeit kaum zu überbieten. Natürlich wird es funktionieren“, sagte ich.
Er neigte seinen Kopf, drehte sich zu mir.
„Vergessen Sie nicht, Sie haben alle Freiheit, Ihre Geschichte so zu schreiben, wie Sie es für richtig halten. Die einzige Bedingung war, eine zu verfassen.“
Überrascht blickte ich ihn an.
„Ein rollender Stein ist nicht mehr aufzuhalten.“, flüsterte er.
Ich rückte ein Stück von ihm weg.
„Es ist Zeit aufzubrechen“, sagte er. Als er das Tor der Kirche öffnete und ich an ihm vorbeiging, fügte er hinzu: „Was auch immer Sie eingesteckt haben, Sie können es behalten.“
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