Der schräge Altar
von Marcus Soike
Die Sonne geht auf. Unsere Kirchenruine liegt im zaghaften Licht. Auch in einem hohlen Zahn kann noch böses Blut sein. Unsere Kirchenruine hat kein Dach. Kein Hindernis zum Himmelsreich. Der blutige Stein in meiner blutigen Faust. Mein anderer Arm stützt das Mädchen. So lehnen wir an der Mauer. Es ist nicht so gemütlich wie in einem Liegestuhl oder auf einem Grabstein für ein Kind. Die ewigen Lichter, die wir von Gräbern geklaut haben, brennen noch. Sie brannten vergeblich für die Toten, jetzt leuchten sie vergeblich gegen den sonnigen Morgen an. Rot eingefasst. Alles in Blut eingefasst.
Unterm Chorbogen ist ein Spinnennetz. Daran Tautropfen, die glitzern und einen Prismeneffekt haben. Das Netz ist eine würdige gotische Fenster-Rosette. Kurz glitzern die Tautropfen nur noch rot. Das Mädchen in meinen Armen schluchzt. Der blutige Stein in meiner blutig geschlagenen Faust. Die Sonne verliert ihr erstes Blut, bescheint gelb unsere Heimatlosigkeit.
Auch im Efeu ist Tau. Eine Motte erforscht die kleinen Lichtverstärker, entscheidet sich dann für die Sonne selbst. Wieder fallen mir die ewigen Lichter ein.
Die Steinfugen haben Wurzeln und Flechten aufgenommen. Das “Gesperrt. Einsturzgefahr!” – Schild warnt vor unserer Tragödie. Im taghellen Kirchenschiff: Grabsteine, die stehen, liegen, in der Mauer eingelassen sind… und der lehnende Grabstein eines Kindes. Ringsum der verwahrloste Friedhof der Vorstadt.
In der Nacht begleiteten Fledermäuse unsere Tragödie. Frei wie ein Vogel in die Mausefalle, wer wünscht sich das nicht. Auf einen Grabstein aufzuklatschen, nicht unter ihm zu zermatschen, wer wünscht sich das nicht.
Das Mädchen in meinen Armen wimmert: “Ich will nach Hause.”
Brombeerüberwucherung, Schimmel, Modergeruch, ein Schild mit dem Hinweis “Einsturzgefahr” – die Natur holt sich ihren Raum zurück.
Ich sage: “Er kann dir nichts mehr tun, Mädchen.”
Der Morgen geht voran, ich sage es ihr wieder und wieder. Sie will wieder und wieder nach Hause, aber das ist nicht so einfach.
Der umgestürzte Grabstein eines Kindes reicht in den Chor hinein. Mit einer Ecke lehnt er an der Wand. Er mag schon hundert Jahre in dieser schrägen Lage sein. Der schiefe Altar – auch das Opfer ist schräg. Der gute Olli. Er war schräg. Ist es jetzt auch noch, mit seinem eingeschlagenen Schädel. Die kaum lesbare Inschrift des Steins kann das Blut in ihren Rillen kaum aufnehmen, aber jetzt: ja… noch mehr Blut rinnt… lesbar ist: “Katharina Zwetgen, 1894-1906.”
Das Mädchen in meinen Armen wimmert: “Ich will nach Hause.”
Sind die Brombeeren unser Leichentuch? Ich bin in der Verfassung, das beobachten zu wollen. Ich halte das Mädchen fester. Sie protestiert nicht. Blutige Tränen hängen im Spinnennetz. Die Grabinschrift wird eingeweicht, platzt gleich. In meinen Fingerzwischenräumen gerinnt das Blut. Blutiger Staub im Wind. Die Bruchstelle meines Faustkeils ist weiß. Erahnbar, wenn auch nur im Wahn: Rote Splitter überall. Erahnbar, wenn auch nur im Wahn: Rote Schädelsplitter.
Olli, warum konntest du das Mädchen nicht in Ruhe lassen? Dein Blut rinnt den Grabstein runter, aber du selbst solltest den Bach runtergehen. In meiner Faust fließt das Blut nicht mehr. Der Faustkeil liegt schräg in meiner Hand.
“Er kann dir nichts mehr tun”, wiederhole ich, aber sie rinnt mir durch die Finger. Weil der Altar von Ollis Leiche belegt ist, muss ich das Mädchen in meinem Schoß opfern.
Olli penetrierte sie. Sie lachte anfangs deswegen, aber dann wurde es mehr und mehr ernst. Seine Umarmung wurde ein Festhalten, seine Küsse nahmen die Gewalt von Bissen an. Er entfernte ihren Tampon. Ich sagte: “Hör auf.”
Ich sagte es einmal, zweimal, dreimal. Dann penetrierte mein Faustkeil seinen Kopf. Das Mädchen schrie Ähnliches wie “Hör auf.” Sie beide haben auf dem Altar gefickt. Und ich bin auch gefickt.
Wir wollten nur ein bisschen saufen. Die Sterne strahlten über unserem Obdach – und Hoffnungslosigkeit. Unsere Kirchenruine ohne Dach. Unser Dom mit der Kuppel der Welt. Vorher waren wir allenfalls in Abbruchhäusern willkommen. Dann fanden wir diese Ruine.
Wir alle befinden uns auf einer antiken, marmornen Rutschbahn in Richtung Scheiße.
Ich sehe Spinnenweben, in denen Mörtelbrocken hängen. Das Mädchen will nach Hause, ich sage ihr, dass er ihr nichts mehr tun kann und dass sie bereits zu Hause ist. Nennen wir sie Katharina.
Mit blutigem Finger schreibe ich kursiv ihren Namen in die Luft. Ich bin, ja, wirklich, ein schräger Typ. Sie rutscht von mir.
Ich sinke mit ihr hinab.
One thought on “Der schräge Altar”