Der Unfall
von Dorothea Lesche
Es regnete immer noch. Sie war für einen kurzen Moment über ihren Zeilen eingeschlafen. Als sie den Kopf hob, schwammen die Buchstaben unsinnig auf dem dicht bedruckten Papier herum. Wieso kam er nicht nach Hause. Bisher hatte er sich immer an ihre Vereinbarung gehalten. Sie verlangte wahrscheinlich zu viel von ihm. Aber die anderen Kinder waren doch auch erst neun, zehn Jahre alt.
Marie, er war noch nie wie die anderen.
Glut schoss ihr ins Gesicht. Als wäre jemand hier, vor dem sie sich rechtfertigen müsste. Doch da war nur Leere um sie herum. Leer das Zimmer; sie schlug die Strickjacke eng um den Körper. Der Tisch, Stühle, das Bücherregal, das Klavier, das Foto auf der Vitrine. Die weiße Rose davor in der Vase.
Marie, es ist doch alles da.
Kalte hilflose Hände streichelten das Holz der Tischplatte – nein, das Holz streichelte die Hände, so war es wohl. Schmal und bleich ruhten die Finger im Trost der hellen Eiche. Was würde er jetzt wohl auf dem Spielplatz treiben, so einsam. Es drückte ihr auf den Magen. Seltsam, dass man sich nicht an Gefühle erinnern kann, man kann sie nur immer wieder spüren. Das muss wohl so sein; der Körper zwingt einen dazu. Ihr Körper zwang sie oft.
Wie kam das Foto auf die Vitrine. Sie selbst hatte es bestimmt nicht aufgestellt. Das wüsste sie doch. Freilich, gestern hatte sie die Wohnungstür nicht abgeschlossen, das war ihr noch nie passiert. Und einmal hatte sie statt der Straßenschuhe die warmen Socken angezogen. Aber das Foto – diesen Mann kannte sie ja gar nicht. Das Foto von einem fremden Mann in der Wohnung. Dass David noch nichts dazu gesagt hatte. Die Person auf dem Bild sah ihm ähnlich. Der Mund, dieses Lächeln – und die Narbe über der linken Augenbraue. Wo hatte sie diesen Mann bloß schon mal gesehen. Hatte sie eigentlich heute ihre Medizin genommen. Zwei Tabletten morgens und zwei abends – oder zwei morgens und eine abends. Auf alle Fälle zwei Tabletten irgendwann am Tag.
Marie, was ist los mit dir.
Als sie die Wohnung besichtigt hatte – an einem späten Nachmittag im Winter -, war es der Blick aus dem Wohnzimmerfenster gewesen, der gegen sachliche Argumente gewonnen hatte (Dachgeschosswohnung im fünften Stock ohne Aufzug, Kleinstadtmief). Wie sie über Dächer und Nichtigkeiten erhaben gewesen war. Wie die Sonne im Untergehen den Himmel violett gestreift hatte. Unter ihr, hinter dem Wohnblock auf der anderen Straßenseite, lag der Spielplatz. Rutsche und Sandkasten mit Bänken daneben, hinter knorrigen Bäumen ein Bolzplatz und ein Klettergerüst aus Seilen. Wenn David älter wäre, würde er allein hingehen können. Er würde Freunde haben, seine Geheimnisse mit ihnen. Sie könnte ihn sehen von hier oben und ihm winken.
Der Blick ist wunderbar, nicht wahr? Ich gebe Ihnen die Wohnung.
Sie war zusammengezuckt, als der Vermieter sie von hinten angesprochen hatte.
Und der Spielplatz in der Nähe, ideal. Sie haben ein Kind, wenn ich mich recht erinnere.
Vielleicht waren es doch zwei Tabletten morgens und zwei abends. Als hätten sie sich endlich entschieden, klappten schmächtige Hände die Mappe zu. Sie würde die Akte sowieso nicht lesen, mal an einem Sonntagnachmittag nicht arbeiten. Seit Jahrzehnten schon dieses verblichene Graugrün der Pappdeckel; Davids Kindergartenzeichnungen waren auch in solchen gesammelt worden. Der Hefter glitt wie aus eigener Kraft über das verblasste Halbrund eines Rotweinglases; die Finger stockten. Die Kerbe in der Tischplatte.
David war mit dem Messer abgerutscht. Wie damals zuckte ein Brennen durch ihren Leib. Das war noch gar nicht so lange her.
Marie, das war vor 15 Jahren.
Wo er nur blieb. Vielleicht war er mit einem Freund mitgegangen. Nein, da hätte er ihr Bescheid gesagt. Oder die Mutter des Freundes. Wenn sie nur nicht so schwer hochkommen würde. Als bräuchte sie Halt auf dem Weg zum Fenster, fassten die Hände Stuhllehne, Klavier, Vitrine. Das Foto wollte sich ihr in den Weg stellen. Mit dem Ellenbogen warf sie es um. Kratzte sich mit spitzen Fingernägeln auf der Kopfhaut, wie um diesen Mann aus ihrem Kopf zu krallen. Urplötzlich sprangen sie von der Rückseite des Fotos feste Buchstaben an: David an seinem 20. Geburtstag.
Marie, denk nach.
Das Bücherregal drückte an ihre Schulterblätter, an ihre Lendenwirbelsäule. Sie hielt dagegen, genoss diesen Schmerz. Längst hatte sie sich angefreundet mit dem Schmerz in ihrem Körper; sie brauchte einen Schmerz, den sie sehen, greifen konnte, der sie bluten ließ. Brauchte solchen Schmerz, um nicht nur ein einziger unfassbarer Schmerz zu sein.
Es regnete immer noch. Sie müsste mal wieder das Fenster putzen, um besser auf den Spielplatz sehen zu können.
Marie, du musst nicht mehr auf den Spielplatz sehen können.
Auf dem Gehweg stand ein Junge.
David.
Marie, er kann dich nicht hören.
Warum ging er denn nicht über die Straße. Vielleicht wartete er noch auf einen Freund. David kümmerte sich immer so lieb um andere. Ein LKW fuhr vorbei, löschte den Jungen aus. Ein junger Mann stand dort. Der Mann vom Foto auf der Vitrine. Oder war es doch der Junge.
Marie, was soll das.
Jetzt könnte sie das Fernglas brauchen. Seitdem er allein auf den Spielplatz ging, wartete es verlässlich wie ein Notfallkoffer auf dem Fensterbrett. Verborgen hinter dem Vorhang. Sie hatte es nie benutzt; es war nur … wegen ihrer Angst um ihn. Wo war es denn, das Fernglas. Wieder auf einen Schlag diese Hitze im Gesicht; sie würde doch nicht etwa krank werden.
Marie, lass den Fremden dort unten.
Dort unten stand er. Warum kam er nicht nach Hause.
David.
Nein, sie durfte nicht aus dem Fenster schreien. Was sollten die Leute denken. Sie ließ die Hausschuhe an. Hinter ihr knallte die Wohnungstür ins Schloss. 4. Stock, 3. Stock; Hallo, Frau Stern, Sie haben´s ja eilig; 1.Stock; die junge Frau aus dem Erdgeschoss, musste sie gerade jetzt mit dem Kinderwagen durch die Haustür schieben; Frau Stern, Sie können doch nicht so raus, ohne Jacke, es regnet.
David.
„Sie ist plötzlich auf die Straße gerannt, ohne sich umzuschauen. Direkt aus dem Haus muss sie gerannt sein. Da hatte ich keine Chance, trotz Vollbremsung.“
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