Der wahrhaftig-lyrische Traum
Rezension von Stephan Moers
Jackie Morris, Die Winterkönigin, erschienen im Wilhelm Goldmann Verlag, München 2021, ISBN: 978-3442316304, 160 Seiten, 18 Euro
Wenn etwas heutzutage als Traum daherkommt, dann verstehen wir darunter nicht selten etwas, das mit den Begriffen „vage“, „flatterhaft“ und „schemenhaft“ beschrieben wird. „Es ist traumhaft“ ist eine Umschreibung, die es dem Empfänger der Aussage überlässt, sich nach eigenen Maßstäben alles Weitere auszumalen. Manchmal können Träume aber auch sehr konsistent sein. Wenn dies der Fall ist, dann sind sie ein eigener kleiner Kosmos, mit all seinen Möglich- und Unmöglichkeiten. Genau solch einen Kosmos findet man in Jackie Morris „Die Winterkönigin und andere Träume“. Dieses Buch lässt sich gar nicht richtig einordnen. Ist es Lyrik? Ja! Ist es Prosa? Auch, ja! Ist es ein Bildband? Ja, das ist es. All dem stellt die Autorin noch einen Text in Form eines Beipackzettels voran. Einnahmehinweise, Nebenwirkungen und Dosierungshinweise werden genannt. Zum Glück kann man das Buch nicht überdosieren, so die explizite Aussage. Was dann folgt, ist ein wundervoller Traum aus Bild, Text und der Fantasie der Leser, den ich gern mit dem Wort „eigenweltlich“ umschreiben möchte.
Eine Frau, dargestellt als eine Art Geisha, wandelt durch eine herrliche Winterlandschaft und wird dabei von den unterschiedlichsten Tieren begleitet.
„Hat sie einen Namen, diese Frau?
Wenn es so ist, dann kennen ihn
nur die wenigsten. Der Bär weiß ihn.“
Zunächst ist es ein Eisbär, der einen großen Bücherwagen zieht und zusammen mit der Frau durch die Winterlandschaft geht. Die wundervoll kolorierten Bilder und Seitengestaltungen entführen, zusammen mit dem Text, den Leser ganz sanft in die Winterwelt. Gänzlich unaufdringlich wird man so in die Welt der Winterkönigin -denn das ist die Frau- hineingezogen und erfährt mehr über die Eigenart des Träumens. Was sind Träume, was sind Albträume, was findet sich in Träumen. All dem geht die Autorin nach. Ihre Sprache ist dabei angenehm ruhig, aber nicht monoton. Nie verfehlt sie die richtige Nuance beizugeben, so dass Text und Bild einander zu spiegeln scheinen.
„Albträume sind ihr gleichgültig.
Sie sucht nur Schönheit,
Wehmut jedoch bezaubert sie,
denn
die betörendste Schönheit
weilt nicht selten in Wehmut.“
Schlägt man das Buch an einer beliebigen Stelle auf – es so zu lesen ist problemlos möglich und gewollt – begegnet man den anderen tierischen Begleitern: Hase, Fuchs, Wölfe und Karpfen sowie immer wieder der Eisbär sind es, die dem Leser die unterschiedlichen Kapitel und ihre unterschiedlichen Themen nahebringen und ihn auch begleiten. Die Handlung wird dabei nicht tiefer, sondern immer nur anders, was aber nicht bedeutet, dass der Text keine Tiefe hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Ein Kapitel erzählt vom Mitternachtsfisch, ein anderes vom Tanz mit dem Fuchsbegleiter, immer wieder werden Fragen rund um das Träumen aufgeworfen, aber letztlich sind es auch Fragen rund um das Leben. Der Text bedient sich dabei sowohl bei Lyrik als auch Prosa, wobei nie so genau klar ist, was man gerade vor sich hat.
„Wenn ich sagte, meine Liebe
ist wie der Atem des Hasen,
hieltest du sie dann für flüchtig?
Zu leichtgewichtig?
Oder sähest du sie als Lebensspender?
Wild?
Etwas, was im Blut strömt und
den Hasen beflügelt?“
Jackie Morris gibt mit diesem Buch eine Arznei in die Hände des Lesers, welche jedes Mal anders wirkt. Eine Nebenwirkung gibt es aber immer: Staunen. Man staunt über die Bilder, die Worte oder beides zusammen. Es lohnt sich, dieses Kleinod griffbereit auf dem Nachttisch zu haben, um immer mal wieder in die Welt der Winterkönigin einzutauchen und etwas aus ihr mitzunehmen in die eigene.