Der Weg des Fischs
Gechichte von Jane Stone
Zwei Männer sitzen an einem schönen Freitagabend in einem noch schöneren Sushi-Restaurant.
Karsten (44) arbeitet bei der Finanzverwaltung, Jens (45) im Personalmanagement eines Unternehmens, von dem auch Sie Kunde sind. Aus rechtlichen Gründen müssen wir uns mit Details zurückhalten. In diesem Moment warten diese zwei Menschen, die man der Ehrlichkeit halber am besten als Bekannte bezeichnen sollte, auf ihre Bestellung.
Karsten ist die Stille schnell unangenehm. Er räuspert sich und, bevor er einmal gut darüber nachdenken kann, sagt er:
„Weißt du, was neulich passiert ist?“
“Was?“
Jens Zeigefinger dreht auf der Speisekarte ungeduldige Kreise. Ein festes Papier mit einer guten Beschaffenheit. Eine gute Investition, die die Aufmerksamkeit des Kunden auf sich zieht.
Nigiri.
Seine Hand ist bei diesem Knöchel besonders steif. Jetzt weiß er, welchen Finger er an der Tastatur am meisten benutzt.
Karsten kratzt sich am Nacken und berichtet: „Bei uns auf der Etage hing neulich ein Kondolenzbuch.“
Im kalten Treppenhaus. Die erste Woche hat er so gut es geht daran vorbeigeschielt.
„Wer ist gestorben?“
Er muss mal wieder mit der Nagelschere ran.
Sein Zeigefinger sieht seltsam aus.
„Der Günter.“ Unerwartet gestorben.
Karstens Augen fixieren die Holztheke. Die Kugellichter, die von der Decke hängen, streuen ein warmes Licht. Die Sakeflaschen glänzen einladend. Rote Lettern der Marke Kirin auf den Gläsern umrahmt von Schriftzeichen aller fernen Orte, an denen er lieber sein möchte. Sein Rachen dörrt in Rekordzeit aus.
Jens muss etwas in seinem Kopf kramen. „Der Typ mit der Weihnachtskrawatte im Herbst?“
„Davon habe ich dir erzählt?“
Der Laden ist klein und gut besucht. Leises Gemurmel, ab und zu angetrunkenes Lachen. Sie sitzen an einem Tisch mit einem guten Blick auf den Sushi-Meister. Dieser formt den Reis mit Bedacht. Langsame Bewegungen getrieben von Jahrzehnten Training. Menschliche Fähigkeit auf dem Höhepunkt. Jens hat das Restaurant herausgesucht.
Leider. „Beim letzten Klassentreffen.“
Um davon abzulenken, dass er sein Bier umgeworfen hat.
„Letzte Woche habe ich ihn noch gesehen. Er sah ein bisschen müde aus, aber nicht tot. Jeder sieht mal so aus.“
Der letzte Satz ist solch eine Selbstverständlichkeit, Karsten muss sich davon abhalten, ihn durchs Restaurant zu schreien und auf das kollektive Nicken zu warten. Stattdessen bekommt er bloß diese Antwort zu hören: „So schnell geht’s.“
Stephanie hat sich um den Papierkram gekümmert. Wirklich ein Glückstag.
Jens fügt hinzu: „Wie schaust du? Macht es dich traurig?“
„Dich nicht?“ Verzweifelt schielt Karsten in die Küche. Der Sushi-Meister ist gerade dabei, den Fisch mit einer ruhigen Hand zu zerteilen. Dem Messer ist Lachs wie Butter. Es gleitet durch alles. Mundgerechte, saftige Happen. Die tiefroten Wände des Restaurants lassen jedes Fischfilet besonders appetitlich aussehen. Karstens Magen knurrt leise.
Schulterzucken zur knappen Feststellung: „Ich hab ihn nicht gut gekannt. Du etwa?“
„Nein, aber die Geschichte an sich macht doch jeden ein bisschen traurig.“
In Woche zwei hat er seine Unterschrift ins Kondolenzbuch gezwungen. Karstens Blutdruck erreicht langsam bedenkliche Höhen. Sein Gesicht passt sich an die Inneneinrichtung an. Nein, du bist ein erwachsener Mann. Du hast das Fingernägelkauen hinter dir gelassen
Unauffällig bewegt sich also Karstens Bein unterm Tisch, um dem Unwohlsein Herr zu werden.
Nicht zu viel Energie. Nicht den Schenkel zu hoch. Nicht von unten an die Tischplatte knallen. Deine Knochen werden es dir nicht mehr verzeihen. Einfach den Fuß wippen.
Für Jens ist es die einfachste der Erkenntnisse: „Manchmal sterben Menschen.“
Für die Personalplanung ist der plötzliche Tod eine Unannehmlichkeit. Für die Geschäftsführung ist es ein glücklicher Umstand. Kein Anspruch auf Abfindung und weniger Papierkram. Wenn man von der Einkommens- und Mehrwertsteuer für die paar weggefallenen Jahre absieht, müsste es auch den Staat erfreut haben.
„Er hatte nur noch ein paar Jahre bis zur Rente. Du ackerst dich ab und kannst es nicht mal mehr genießen.“
Ein Tag später kam ein neuer Mann aus dem Büro, Günters Name stand noch auf dem Schild. Wow, haben sie ihn schnell ersetzt. Dieser Mann grüßte ihn mit einem heiteren „Hallo“ und einem lockeren Winker. Karsten hasst jetzt kleine Ziegenbärte. Hätte er auch nie erwartet.
Jens liest in Karstens Gesichtsausdruck die Antwort: „Okay, es ist schon traurig.“
Als Student hat er auf den Tod gewartet. Auf dem harten Boden gelegen und an die Decke gestarrt. Nie hätte er damit gerechnet, es bis 25 zu schaffen. Tief in seinen Vierzigern spürt er keine Furcht mehr. Er ist wirklich gesegnet.
Karsten versucht auf Jens zuzugehen. „Stell dir vor ich wäre letzten Dienstag gestorben, dann wäre mein letzter Gedanke gewesen: ‘Oh, Jens. Er hat nie Zeit für mich. Gute Schulfreunde habe ich aber auch.’“
„Bist du aber nicht und ich habe dir eine Mail geschickt. Ich habe meinen Teil getan.“
Jens ist ein angenehmer Vorgänger. Wenn er plötzlich stirbt, hat er es seinem Nachfolger ein gemachtes Nest hinterlassen. Alle Ordner sind alphabetisch sortiert. Gern geschehen.
„Und wenn ich jetzt sterbe?“
Jens muss Günters Akte sicherlich mal in der Hand gehabt haben. Hunderte, vielleicht sogar tausende Male. Und er hat Karsten ins Gesicht geschaut und gefragt, ob Günter der Kerl mit der Weihnachtskrawatte war. Beim Gedanken kommt Karsten Gänsehaut.
„Kannst du bitte erst nach dem Sushi sterben.“
Der Small Talk hat heute ungewöhnliche Züge angenommen. Jens ist zumindest unterhaltend. Irgendetwas stößt immer wieder an den Tisch. Das unruhige Bein gehört nicht ihm.
Karsten ist immer noch so ungeduldig wie eh und je. Eigentlich sollte sich das mit dem Alter bessern.
„Okay, und wenn ich nach dem Sushi sterbe?“
Karsten zwingt sich dazu, den Beifang nicht auszusprechen. Er steht Jens nicht nahe genug, um ihm das erzählen zu wollen. Der Sushi-Meister wendet sich nun endlich den Maki zu. Ein präziser Handgriff folgt auf den nächsten. Karsten hält es nicht mehr aus.
„Dann hattest du fantastisches Sushi. Eine bessere Art zu sterben, gibt es nicht.“
Für Jens hat sich der Beerdigungsanzug gelohnt.
Egal wie viele Waschgänge, das Schwarz bleibt standfest. Einen Großteil seiner Familie hat er schon zu Grabe getragen. Viele langgezogene Tage in Krankenhäusern. Körper, die regungslos in Betten liegen. Letzte Momente zusammengefasst in der alten Einkaufstüte voller Kleinkram,
die dir der Krankenpfleger beim Abschied in die Hand drückt. Vater, Mutter, Onkel, Tante, Cousinen. Jens ist durchgeimpft.
„Hast recht. Die Welt wird nicht besser.“
Jeder, der jetzt eingestellt wird, wird nicht mehr wissen, wer Günter war .Neulich hat ein paar Straßen von Karstens Wohnung entfernt ein schwarzer Transporter geparkt. Pietät Meier. Ein Anhänger mit einem kleinen, gelben Sneaker hing vorne am Innenspiegel. Die, die man im Schreibwarenladen zehn Minuten von hier kaufen konnte. Dort in der Nähe haben sie ein Schaufenster mit Urnen und einem Kalenderspruch: „Der Tod ist ein Blumenfeld im Winter.“
Was soll das überhaupt bedeuten? All die Beerdigungen haben das bezahlt. Wir sind Pietät Meier und irgendwann stehen wir auch vor deiner Tür.
Die ewige Wahrheit: „Nur schlechter.“
Der Moment des Todes wäre sicherlich eine schöne Abwechslung. Keinerlei Aufgaben, keinerlei Bürokratie, keinerlei Höflichkeit. Einfach nur eine allumfassende Stille. Ein vollkommener Augenblick. Wenn er das noch miterleben könnte, wäre es perfekt.
„Stell dir vor, ich wäre an dem Tag gestorben, an dem ich gemerkt habe, dass die Schokokekse teurer geworden sind.
Du weißt doch die… die mit den zwei Teilen.“
Karsten redet sich grade um Kopf und Kragen, weil er die Alternative nicht aushält. Eines Abends lag er in seinem Bett, und da wurde ihm plötzlich klar, dass er sterben wird. Hundertprozentige Wahrscheinlichkeit. Alternativlos. Erst zum Morgengrauen konnte er diese Wahrheit erfolgreich für die nächsten Jahre wieder aus seinem Kopf verbannen.
Absolut gar keine Ahnung, welche Kekse Karsten meint.
Jens nickt einfach und: „Alles wird immer teurer.“
Die passende Antwort für jede Gelegenheit. Wow, das Sushi lässt wirklich auf sich warten.
„Die Schokokekse taten weh.“
Heute Nacht wird Karsten wieder nicht schlafen können. Einmal wollte er doch bloß einen gemütlichen Abend mit einem Bekannten. Gerade tut sein Rücken weh und sein Bein hört einfach nicht auf zu zappeln. Die Gefahr, dass er sich was zerrt, schwebt ihm seit seinem fünfunddreißigsten Geburtstag überm Kopf. Der Sushi-Meister nähert sich derweil der Zielgeraden.
Seetang, Reis, Thunfisch auf der Bambusmatte. Nur noch die Sushi rollen, geschnitten auf die Teller drapieren und dieses unangenehme Gespräch hat nie stattgefunden. Vergessen und weiter im Leben.
Jens Zeigefinger klebt wieder auf der Speisekarte. Den schiefen Fingernagel kann er immer noch nicht wegdenken.
„Wenn ich morgen tot bin, bestell ich mir noch zwei von den Krabbendingern, wenn der Kellner die nächsten paar Jahre mal wieder hier vorbeikommt.“
Nigiri. Vielleicht können sie seinen Körper kompostieren. Davon hat er aus den Lokalnachrichten gehört. Vielleicht düngen sie mit ihm einen Apfelbaum.
Dann könnten seine Kollegen sagen: „Wow, ist der Apfel mehlig! Jens ist im Tod wie im Leben.“
Das Schmunzeln verkneift er sich erfolgreich.
Kichert Jens grade ernsthaft? Jetzt? Karsten ist geschrumpft und in seine Gedanken gefallen, schwimmt darin. Endet er in der Sekunde, in der er stirbt? Lassen sie sein Schild an der Tür hängen? Er wird nicht wissen, ob man ihn vergisst. Er nickt einfach. Nicken, immerzu nicken.
Der Kellner naht, also bindet Jens eine Schleife ums Gespräch.
„Noch eine Sache, Karsten. Wenn ich jetzt sterbe, leer meinen Briefkasten. Wenn du stirbst, leer ich deinen. Abgemacht?“
Er meint es nicht so.
Karsten hat das dringliche Bedürfnis, sich an allem zu krallen, was beweist, dass er mal auf dieser Erde gestanden hat. Er hat Jens eben nur halbherzig zugehört.
„Abgemacht.“
Er meint es nicht so.
„Hier ist Ihre Bestellung.“
Der Moment ist vorbei.