Die Diplomatin
Geschichte von Bettina Bartzen
„Guten Tag Frau Yilmaz. Ich heiße Martha. Wollen Sie aufstehen?“
Frau Yilmaz ist eine neue Bewohnerin.
„Martha, was für ein schöner Name!“
Frau Yilmaz erzählt sofort, dass sie keine normale Migrantin ist. Sie möchte nicht mit dem ganzen Heer von türkischen Arbeitern aus Anatolien, die in den 60er Jahren nach Deutschland kamen, verglichen werden. Sie ist anders, weil sie aus Istanbul kommt.
„Ich war Dolmetscherin und habe für die deutsche Botschaft gearbeitet! Deutschunterricht habe ich auch gegeben.“
„Das ist ja interessant.“
Martha schaut sie mit einem bewundernden Blick an, während sie den Rollstuhl in Position stellt. Frau Yilmaz freut sich, aus ihrem Leben erzählen zu dürfen. Nach ihrer Meinung gehört sie gar nicht ins Altenheim. Diese unansehnlichen Alten, die nicht mehr wissen wo sie sind, die sich das Hemd beim Essen bekleckern und mit stinkenden Unterhosen herumlaufen, mit denen möchte sie nichts zu tun haben. Sie streicht mit ihren rot lackierten Fingernägeln das Bettlaken glatt. An der Wand hängt ein Foto, auf dem sie mit dem Deutschen Botschafter in Istanbul zu sehen ist. Sie trägt ein Kostüm aus lindgrünem Damast, die schwarzen Haare sind hochtoupiert, die Lippen strahlen in einem dunklen Rot. Der berufliche Erfolg spielt im Altenheim keine Rolle mehr.
Der Anblick ihres gelblich trüben Urins ist Frau Yilmaz peinlich. Deshalb steckt sie den Urinbeutel in eine bunte Einkaufstasche, die mit weißen Gänseblümchen auf gelbem Grund bedruckt ist. Der Urin von Frau Yilmaz fließt seit zwölf Jahren in den Beutel. Ein Silikonkatheter liegt genau nach ihren Angaben in der gewünschten Position. Auf dem Oberschenkel dürfen keine Abdrücke entstehen.
Frau Yilmaz schläft jede Nacht im Sitzen. Das Bettlaken darf nur bis zu den Oberschenkeln reichen. Ihre Beine schmerzen bei jeder Bewegung.
„Die Decke noch etwas mehr in den Rücken. Nein nicht so! Etwas mehr nach links“, befiehlt Frau Yilmaz. Das Kopfteil des Bettes steht fast senkrecht. Links eine Decke, rechts ein Kissen, um den korpulenten Körper abzustützen. Vom Bett auf den Toilettenstuhl zu gelangen, das erfordert nicht nur Kraft, sondern auch logistisches Denkvermögen. Bevor Frau Yilmaz aufsteht, muss Martha den Gehbock in die richtige Stellung bringen. Der Stuhl steht am Fußende des Bettes.
„Nein, nicht so, etwas mehr nach hinten.“
Frau Yilmaz kommt aus einer Gesellschaftsschicht, in der Befehle zu erteilen zum Alltag gehört. Geradezu notwendig, um das eigene Selbstbewusstsein zu stärken. Martha folgt ihren Anweisungen. Zuerst die Pantoffeln, dann die Beine aus dem Bett, den Oberkörper leicht nach vorne beugen, der Gehbock steht parat. Frau Yilmaz´ schwerfällige Bewegungen verlangen Martha außerordentlich viel Geduld ab. Sie müsste schon ein Zimmer weiter sein.
„Ich brauche mein Marmeladenbrot pünktlich um acht Uhr, sonst sinkt mein Blutzucker in den Keller,“ sagt Frau Yilmaz, „und Sie müssen mir vorher die Blutzuckerwerte messen und Insulin spritzen.“
Martha verdreht die Augen, schafft es gerade noch freundlich zu bleiben. Die Uhr zeigt schon halb neun.
Frau Yilmaz wird von Kindermädchen erzogen. Eine Köchin und eine Putzfrau erledigen den Haushalt. Frau Yilmaz´ Mutter richtet Empfänge aus. Der Vater ist ein Geschäftsmann mit internationalen Kontakten. Sie leben in einer Villa am Bosporus. Frau Yilmaz heiratet einen gutaussehenden Mann mit einer vielversprechenden Zukunft. Sie konnte keine Kinder bekommen. Nach der Scheidung vermittelt der Vater ihr eine Arbeit in der Deutschen Botschaft. Nach fünfzehn Jahren geht sie mit ihrem zweiten Mann nach Deutschland. Doch weder neue Kleider, noch berauschende Partys können ihre Unzufriedenheit lindern.
Seitdem ihr zweiter Mann verstorben ist, sind es die Krankheiten, die das Leben von Frau Yilmaz ausfüllen. Mit ihrem Körper kennt sie sich aus. Selbst ein Arzt ist ratlos, wenn sie argumentiert, warum ihre Krankheiten nicht behandelt werden können. Diagnosen wie Diabetes, Übergewicht, Herzprobleme, Darmreizungen, Lipödeme und eine ständige Atemnot sind nur eine Auswahl von vielen anderen Problemen. Wenn der Hausarzt sagt, sie müsse sich mehr bewegen und dürfe nicht so viel Süßes essen, hat sie ein einleuchtendes Argument, warum das keinen Sinn ergibt. Ein Medikament, das ihren Darm schützen würde, verträgt sie nicht. Das Leiden macht sie lebendig.
Jeden Morgen wird Frau Yilmaz vom Personal im Rollstuhl auf die Terrasse geschoben. Sie schaut in den grauen Himmel, nimmt einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. Die Zigaretten teilen den langen Tag in kleine Abschnitte, so wie das Marmeladenbrot um acht, das Mittagessen um zwölf und das Abendessen um achtzehn Uhr.
Frau Yilmaz muss nie kochen. Als sie in der deutschen Botschaft arbeitet, geht sie in der Mittagspause mit ihren Kollegen essen. Sie unterhalten sich über belanglose Themen. Zum Feierabend trinkt sie ein Glas Sekt und raucht eine Zigarette. Das knisternde Geräusch des brennenden Tabaks entspannt ihren Kopf. Sie ist für Ausreiseangelegenheiten zuständig und übersetzt deutsche Texte in die türkische Sprache. Mit ihrem zweiten Mann reist sie um die Welt.
„Es war ein gutes Leben“, sagt sie.
Mit ein wenig Bewegung und besserer Ernährung könnte sie den Blutzucker in den Griff bekommen, sagen die Ärzte. Sie schafft es nicht, gesünder zu Leben. Sie will es auch nicht.
Jeden Abend kämpft Frau Yilmaz mit ihrer Atmung. Ihr Brustkorb hebt und senkt sich, begleitet von rasselnden Atemgeräuschen. Sie ringt nach Luft. Die letzte Zigarette ist geraucht, nun braucht sie ein Spray um ihre Atemnot zu lindern. Die eingeatmete Luft kann sie nicht mehr vollständig ausatmen. Sie fühlt sich wie ein aufgeblasener Ballon. Die Bronchien produzieren gelblichen Schleim. Neben der chronischen Bronchitis, die sie schon seit Jahren quält, haben die Ärzte vor einigen Monaten einen Tumor in der Lunge festgestellt. Für sie ist es nur ein Raucherhusten.
„Ich brauche Sauerstoff“, sagt Frau Yilmaz.
„Es liegt keine Anweisung vom Arzt vor“, sagt Martha.
„Dann möchte ich sofort einen Arzt sprechen.“
„Aber die Praxis ist geschlossen.“
„Dann rufen Sie den Notarzt!“
„Das ist kein Notfall. Warten Sie bis morgen, dann klären wir das.“
„Messen Sie mir sofort den Sauerstoffgehalt“, sagt Frau Yilmaz.
Martha folgt ihren Anweisungen und legt den Zeigefinger von Frau Yilmaz in das viereckige Messgerät. Die digitale Anzeige zeigt in blauen Zahlen achtundachtzig Prozent.
„Sehen Sie, der Sauerstoffgehalt ist viel zu niedrig,“ sagt Frau Yilmaz mit einem zufriedenen Lächeln. Der Normalwert liegt bei gesunden Menschen zwischen dreiundneunzig und neunundneunzig Prozent. Sie kennt sich mit den Messwerten aus.
Mit Beginn der Wechseljahre hat sich das Unterhautfettgewebe in ihrem Körper übermäßig vermehrt. Lipödeme lassen sich nicht behandeln. Ein Schmerz in den Beinen, als würden sie platzen, sorgt für schlaflose Nächte. Kompressionsstrümpfe und Wassersport können eine Linderung herbeiführen. Aber Kompressionsstrümpfe erträgt sie nicht, und Spaziergänge sind schon lange nicht mehr möglich. Frau Yilmaz sitzt im Rollstuhl, die Schmerztabletten schädigen Leber und Nieren. Abends spritzt Martha die notwendigen Einheiten Insulin. Danach gönnt sich Frau Yilmaz ein Glas Cola und eine Tüte Chips.
Der Hausarzt begrüßt Frau Yilmaz mit einem Handschlag.
„Wie geht es Ihnen?“
Sie klagt ihr Leid, die Zimmertür steht offen, der Hausarzt eilt Martha hinterher.
„Wie alt ist sie? Sechsundachtzig Jahre? Geben Sie ihr Sauerstoff. Auf den Intensivstationen brauchen wir die Betten für Covid-19 Erkrankte.“
Frau Yilmaz hat Angst. Vielleicht stirbt sie ja doch? Martha steckt ihr eine Sauerstoffsonde in die Nase. Die innere Angespanntheit löst sich auf. Das Brummen des Sauerstoffgerätes gibt ihr Sicherheit.
„Sie werden sehen, der Sauerstoff wird Ihnen helfen,“ sagt Martha, während sie den Puls misst. Martha glaubt selbst nicht an eine Besserung. Der Puls schlägt in einem sehr langsamen Rhythmus. Als führe ein Zug mit angezogener Handbremse in einen Bahnhof ein.
Das Sauerstoffgerät brummt Tag und Nacht, im Kopf geht Frau Yilmaz den Ablauf ihrer Beerdigung durch. Es wird eine klassische Erdbestattung auf einem Friedhof sein. Sie möchte auf keinen Fall verbrannt werden. Die Abschiedsrede hat sie mit dem Pastor besprochen, sie ist eine gläubige Christin. Sie fragt sich, wer an ihrem Sarg stehen wird.
Ihre Freunde besuchen sie schon lange nicht mehr. Man hat sich aus den Augen verloren.
Frau Yilmaz raucht keine Zigarette mehr, das Marmeladenbrot am Morgen ist ihr nicht mehr wichtig. Sie schläft. Ihr Puls wird langsamer, der Herzschlag ist kaum noch zu hören. Die Pausen zwischen den Atemzügen werden länger. An einem sonnigen Nachmittag stößt sie einen Seufzer aus.
Martha öffnet die Zimmertür und sieht die leblose Frau sitzend im Bett. Der Kopf hängt leicht nach unten, die Kissen stützen ihren toten Körper. Sie sieht aus wie eine Marionette, deren Puppenspieler die dünnen Fäden abgeschnitten hat. Martha stellt das Bett flach und ruft einen Arzt. Der Bereitschaftsarzt untersucht mit einem Stethoskop die Herztöne. Kein Herzschlag zu hören.
„Hatte sie einen Herzschrittmacher?“, fragt der Arzt. Auf dem Totenschein steht: gestorben um sechzehn Uhr, Todesursache: Herzversagen. Das durchgeschwitzte Nachthemd klebt am Körper. Das weiße Kleid, das sie für diesen Tag ausgesucht hat, bleibt im Kleiderschrank. Martha und ihre Kollegin legen den Leichnam in einen weißen Plastiksack, der mit einem durchgehenden Reißverschluss versehen ist. Darauf legen sie das gelbe Schild mit dem Warnhinweis „Infektiös“. Die Schutzmaßnahmen gegen die Verbreitung von Covid-19 sind streng. Der Leichnam wird innerhalb von vierundzwanzig Stunden verbrannt. Niemand steht zum Abschied an ihrem Sarg, die kirchliche Messe mit der vorbereiteten Rede fällt aus. Nachdem alles erledigt ist, machen Martha und ihre Kollegin eine Pause. Martha zündet sich eine Zigarette an.
„Sie ist tot“, sagt Martha, „ich bin erleichtert“.
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