Die Überstellung
von Martin Jaksche
Eigentlich hasste Paul Überstellungsfahrten nach Deutschland. In Österreich ging es ja, die Autobahnen waren in der Nacht relativ leer, die Leute fuhren halbwegs vernünftig, die Geschwindigkeit war okay. Aber ab dem Walserberg wurde es immer schlimmer. Auch in der Nacht viel Verkehr, und die Leute fuhren alle, als wären sie auf der Flucht. Immer volles Rohr, permanente Spurwechsel, dichtes Auffahren, Lichthupe, wenn man nicht sofort die Spur freigab.
Es war Stress pur, ganz abgesehen von der Anstrengung und Monotonie einer Nachtfahrt. Aber diese Fahrten waren gut bezahlt, und die Autos, die er zu überstellen hatte, waren meist der Oberklasse zuzuordnen, also sehr bequem und gut zu fahren.
Manchmal versuchte er vorher, im Internet jemanden als Beifahrer zu finden. Oft waren es Studenten, die nach Hause fuhren, oder auch Geschäftsleute, die nicht mit dem Flieger unterwegs sein wollten. Man glaubt gar nicht, wie viele Menschen Flugangst haben!
Bei Männern entwickelten sich sehr schnell Gespräche über Autos und Hobbies, aber auch das Studium und die angestrebte berufliche Tätigkeit, je nachdem, wer gerade mitfuhr. Früher hatte er bei seinen Annoncen immer dazugeschrieben, mit welchem Auto er fahren würde. Aber damit hat er mittlerweile aufgehört, denn zu oft waren dann ganz seltsame Typen daher gekommen. Es war nie gefährlich, aber bei so einer langen Autofahrt reichte es schon, wenn es einfach ungut war. Ganz abgesehen davon, dass es natürlich offiziell nicht erlaubt war, jemanden mitzunehmen.
Bei den Frauen wurde nach dem ersten Smalltalk meist über das Studium gesprochen, oft dann aber auch über die Familie, so vorhanden, oder Musik, Literatur, Kino. Ihm war es gleich. Hauptsache, er musste nicht alleine im Auto sitzen. Normalerweise erfuhr er die Termine zwei bis drei Wochen im Voraus. Aber diesmal musste das Auto schnell überstellt werden. Er hatte Zeit, allerdings konnte er sich jetzt nicht mehr nach einem Mitfahrer umsehen.
Als Paul das Auto am Abend übernahm, begann es gerade zu regnen. Auch das noch, dachte er. Im Regen zu fahren, war noch anstrengender, als es die Nachtfahrten eh schon waren. Was soll’s, er hatte zugesagt, und der Wagen war wirklich komfortabel und das Leder der Sitze roch noch ganz neu. Er hatte auf der Strecke seine Lieblingsraststätten zum Pause machen. Knapp vor der Grenze blieb er immer auf einen Kaffee stehen, das hatte er sich so angewöhnt.
Der Regen war mittlerweile sehr heftig. Er brauchte etwas frische Luft, auch wenn diese regennass war, und Bewegung. Als er zur Raststätte einbog, spielte das Autoradio „Baby, it’s cold outside“ in der Version mit Doris Day. Wie wahr, wie wahr, dachte er, als sein Blick auf die Außentemperaturanzeige am Armaturenbrett fiel.
Paul parkte den Wagen und stieg aus. Er machte ein paar Sprints an der Hauswand der Raststätte entlang. Dann ging er hinein. Nach dem Kaffee an der Theke fühlte er sich besser.
Im Spiegel hinter der Theke hatte er die ganze Zeit schon eine auffallend hübsche Frau beobachtet, die an einem der Tische saß. Sie passte überhaupt nicht hierher: zu hübsch, von einer natürlichen Eleganz, die Jacke war schlicht, aber stilvoll. Ihre Ausstrahlung war sogar über das Spiegelbild zu spüren. Sie trank ein kleines Bier und schien auf irgendjemanden zu warten.
Er zahlte und wollte wieder zum Auto gehen. Als er auf der Höhe der Frau war, stand diese plötzlich auf und fragte, ob sie mitfahren könne?
„Aber Sie wissen ja gar nicht, wohin ich fahre“, sagte er ganz verblüfft.
„Ich habe das Autokennzeichen durch die Scheibe gesehen, die Richtung stimmt“, antwortete sie mit einem gewinnenden Lächeln.
„Okay, wenn das so ist, dann kommen Sie mit“, hörte er sich sagen.
Normalerweise nahm er in der Nacht von Raststätten niemanden mit. Das war ihm einfach zu unsicher. Aber in diesem Fall konnte er gar nicht anders, sie hatte ihn in ihren Bann gezogen. Sie holte ihren kleinen roten Koffer unter dem Kaffeehaustisch hervor und folgte ihm auf den Parkplatz. Er war noch immer ganz perplex und sagte kein Wort.
Der kurze Weg bis zum Auto reichte, um ihre dünnen Schuhe ganz aufzuweichen. Sobald sie im Auto saß, zog sie sie aus und warf sie mitsamt ihrer Jacke auf die Rücksitze. Sie hatte eine langärmelige Bluse an, die mit bunten Streifen und Wirbeln bedruckt war; wie ein Feuerwerk aus Regenbögen kam es ihm in den Sinn. Dazu trug sie einen schlichten schwarzen Rock, der knapp über dem Knie aufhörte.
Sobald der Motor lief, stelle Paul die Heizung auf die höchste Stufe. Sie lehnte sich in den Sitz zurück, ihre Haare bildeten wirre Kringel auf ihrer Schulter. Langsam ging die Innenraumbeleuchtung aus, aber er fuhr noch nicht los. Stattdessen sah er sie immer noch gebannt an. Ihre Haare strahlten einen leichten Glimmer aus, so, als ob sie das Licht der Innenbeleuchtung gespeichert hätten und es nun langsam wieder abgaben.
„Ich bin bereit“, sagte sie mit einem Anflug von Belustigung.
„Ja, dann fahren wir“, sagte Paul mit belegter Stimme.
Er bog wieder auf die Autobahn ein und beschleunigte den Wagen. Nach und nach entspannte er sich. Er bemerkte, dass seine Hände feucht waren. Eine innere Wärme überkam ihn. Nach einigen Minuten des Schweigens fragte er sie, ob sie oft als Autostopperin unterwegs sei.
„Eigentlich nicht“, antwortete sie, „aber heute hat es gepasst. Und du, bist du oft unterwegs?“ fragte sie ihn ganz selbstverständlich duzend.
„Ja, schon, wenn halt ein Auto zu überstellen ist“, antwortete er.“
Nach und nach entwickelte sich ein Gespräch übers Autostoppen, Wegfahren und Ankommen und das Reisen im Allgemeinen. Danach versanken sie wieder in ihren eigenen Gedanken.
Er hätte gerne mehr über sie erfahren, aber traute sich nicht, die entsprechenden Fragen zu stellen. Er hatte das Gefühl, dadurch würde etwas zerstört werden, das er aber nicht näher beschreiben konnte. Diese Frau hatte ihn völlig überwältigt.
Der Regen war noch immer sehr stark, das monotone Hin- und Her-Wischen der Scheibenwischer wirkte wie das Pendel eines Hypnotiseurs auf ihn. Er musste sich auf einmal sehr konzentrieren. Sie stützte ihre Hände am Armaturenbrett ab, um sich zu strecken. Ihm fielen ihre feingliedrigen Finger auf. Wie die einer Klavierspielerin, dachte er.
„Und was machst du sonst so?“, fragte sie nach einer Weile.
Paul erzählte ihr von seiner Familie, und dass die Überstellungsfahrten eine willkommene Abwechslung vom Familienalltag waren. Eine kurze Fluchtmöglichkeit, wenn auch mit Rückfahrkarte. Sie wollte mehr über die Familie wissen, dann über ihn, über seine Wünsche und Träume. Er gab ihr bereitwillig Auskunft. Zu seinem größten Erstaunen hatte er überhaupt kein Problem damit, dieser wildfremden Frau alles zu erzählen, ihr seine Wünsche zu offenbaren und seine Träume darzulegen.
Sie hörte interessiert zu, fragte manchmal nach, im Großen und Ganzen aber sprach nur er. Es war wie eine Art Beichte. Und je mehr er erzählte, desto euphorischer fühlte er sich. Er redete sich in einen Strudel hinein, die Worte purzelten aus ihm nur so heraus, als hätten sie schon sehr lange darauf gewartet, dass sich wer für sie interessierte. Er glaubte zu schweben, das Autofahren ging wie von alleine, automatisch, wie eine Nebenhandlung im Hintergrund. Er fühlte sich auf einmal unheimlich befreit, als wäre eine große Last von ihm abgefallen. Noch nie hatte er sich zu einer Frau so hingezogen gefühlt, zu ihrem Wesen.
Dem Autobahnschild, unter dem sie gerade durchgefahren waren, entnahm er, dass es noch 250 km waren, bis er sein Ziel erreicht hatte. Mit einem Male wurde er sehr müde. Er fühlte sich leer, ausgesaugt, und doch mit sich im Reinen. Aus weiter Ferne hörte er ihre Stimme. Sie würde gerne bei der nächsten Raststätte eine kurze Pause machen. Mechanisch betätigte er den Blinker und fuhr von der Autobahn ab. Er stellte den Wagen auf einen überdachten Parkplatz, dann gingen beide in die Raststätte. Er bestellte einen Espresso, sie trank ein kleines Bier.
„Ich muss noch wohin“, sagte sie nach dem Bezahlen, „geh schon voraus, ich komme gleich nach.“
Als er im Auto saß, überkam ihn sofort wieder ein Gefühl inneren Friedens. Er fühlte sich plötzlich sehr müde. Paul wachte auf, weil draußen jemand an die Fensterscheibe des Wagens klopfte.
„Alles in Ordnung?“, hörte er eine Stimme fragen.
Er kannte sich überhaupt nicht aus, wo war er? Offenbar war er im Auto eingeschlafen. Er richtete sich auf und sah sich um. Er war alleine im Auto. Er hatte einen ganz trockenen Mund und musste einige Male schlucken, um überhaupt einen Ton heraus zu bringen. Er öffnete die Türe und stieg aus. Er war am Parkplatz der Leihwagenfirma.
„Na, die ganze Nacht durchgefahren und dann im Wagen übernachtet?“, hörte er die joviale Stimme des Firmenmitarbeiters, der die Übernahme der Autos abwickelte.
„Ja, offenbar“, sagte Paul noch immer benommen.
Er erinnerte sich an gar nichts. War er wirklich durchgefahren? Wieso war er dann im Auto geblieben? Der Schalter der Leihwagenfirma war 24h besetzt, er hätte den Wagen zurückgeben, ein Taxi rufen und sich zum Flughafen bringen lassen können, um mit der allerersten Maschine heimzufliegen. So wie immer. Er hatte keine Erinnerung an die Nacht.
Er nahm seine Sachen aus dem Auto. Auf dem Nebensitz fand er ein Kuvert. Er öffnete es. Darin befanden sich ein Taschentuch mit dem Abdruck roter Lippen und eine gekringelte Haarsträhne. Eine Welle großer Sehnsucht stieg in ihm auf, obwohl er nach wie vor keine Erinnerungen an die Nacht hatte. Paul steckte das Kuvert ein, erledigte mechanisch die Übergabeformalitäten und verließ das Gelände der Leihwagenfirma.
Auf dem Weg zum Taxistand kam er an einem Plakatständer vorbei: «Einladung zum Ball in die Walpurgisnacht» – stand auf dem Plakat. Er sah auf das Datum, es war der heutige Tag.
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