Die Welt ist still und heiser und wir alle sind Junkies
Essay von Maja Seiffermann
Ich laufe durch die Stadt. Sie sieht nicht sonderlich anders aus als sonst. Es drängen sich Menschen aneinander, die – teilweise mehr und teilweise weniger – heimlich an der Ecke Drogenhandel betreiben. Manche kaufen sie unauffällig am Eingang zur Metro oder in der Finsternis am Bahnhof, manche schämen sich und manche tun es so offensichtlich, als hätten sie seit Jahrzehnten nichts anderes getan. Manche verhalten sich dabei höflich und friedlich, andere werden laut, ausfällig oder gar handgreiflich.
Ich sehe jeden Tag die gehandelte Vielfalt; bunt, diverse Gerüche, Wirkungen, gute und schlechte Qualität.
Ansonsten ist die Welt still und heiser.
Eine Gruppe an Menschen sitzt auf der Straße, im Park, auf der Bank, im Kaffee, in der Bahn, auf dem Fahrrad oder an ihrem Fenster; bereits baff von der Wirkung dessen, was sie erworben haben, die einen glücklicher, die anderen weniger. Denn es ist nicht immer möglich zu kontrollieren, was man bekommt. Manche sind beim Handel nämlich aufrichtiger als andere und nicht selten kommt es vor, dass man egoistischen Betrügern gegenübersteht.
Die Stadt quillt über vor Menschen und ihren Drogen. Ich kenne es nicht anders und ich will es auch gar nicht anders kennen. Manchmal laufe ich durch die Stadt, registriere all diese Menschen mit ihren Drogen und denke mir, dass diese Welt weniger erstrebenswert wäre, noch stiller und heiserer.
Drogen sind auch nichts per se Schlechtes oder Gutes; ihr Nachhall hängt immer von ihrer Verwendung ab. Man muss -wenn man schon muss- Drogen verantwortungsbewusst konsumieren, das hört man oft genug. Daher ist es unentbehrlich, ein Umfeld zu schaffen, in dem jeder Mensch nach seinem eigenen Befinden entscheiden kann, etwas zu tun oder zu lassen.
Besonders ist ebenso die Einsetzbarkeit; manche gebrauchen sie zum Spaß und andere als Ultima Ratio. Manchmal jedoch reißen sie uns fort und übermannen uns, sie sind stärker als wir und lassen uns keine andere Wahl als ihnen in die Augen zu schauen, zu konsumieren, sie uns einzuverleiben. Wir müssen sie wahrnehmen. Wiedersetzen wir uns ihrem Zweck, ihrer Existenz, nimmt allmählich keine der Seiten mehr ihre Bestimmung wahr.
Und unsere Eltern versagen trotz ihrer überschwänglichen Versuche, uns stetig vor den Seiten des Bösen zu beschützen. Sie bringen uns den falschen Umgang bei, indem sie uns in einem Maße zu beschützen versuchen, das ihre Grenzen überschreitet. Und allmählich geben sie auf.
Und so wird die Welt still und heiser.
Daher wünschen sich viele, einen Teil der Kontrolle abgeben zu können an höhere Instanzen. Doch Drogen wurden kreiert, damit sie frei in unsere Köpfe hinein und dann noch freier darin herumschweben können. Damit sie dort etwas anrichten – ob Gutes oder Schlechtes sei jetzt dahingestellt. Daher verdirbt die zunehmende Abstinenz von Freiheit manchen sicherlich den Rausch.
Um es äußerst drastisch auszudrücken: Wir sind also so weit, dass wir etwas erschaffen haben, das sowohl mit und für als auch gegen uns arbeitet. Und mit diesem Bewusstsein leben wir Tag für Tag.
Um daher alles auf einen Satz herunterzubrechen:
„Worte sind die mächtigste Droge, welche die Menschheit benutzt.“
– Joseph Rudyard Kipling –
Manchen mag dieser Vergleich nun befremdlich, überzogen oder unschlüssig erscheinen, doch wenn man länger darüber nachdenkt, werden einem die Parallelen allmählich bewusst; sowohl Drogen als auch Worte sorgen regelmäßig für hitzige Kontroversen; Drogen spalten die Menschheit in Befürworter und Gegner, ebenso wie Worte. Nicht nur, weil es verschiedene Sprachen gibt, die wir nicht alle verstehen, sondern auch durch teils fragwürdige Worte, die wir als Ausdruck unserer selbst verwenden.
Es gibt ungefähr so viele Arten von Drogen wie Arten Worte auszudrücken. Wir können schreien, flüstern, schimpfen und loben, wir können sprechen, singen und schreiben. Letzteres bleibt für die Ewigkeit und kommt aus der Tiefe der Seele, und verdient deshalb den Königstitel unter den Drogen.
So wie Junkies, wenn ich dieses unschöne Wort in den Mund zu nehmen wage, nicht ohne Drogen auskommen, komme ich kaum ohne (geschriebene) Worte aus. Ich werde mir ihrer Bedeutung manchmal erst bewusst, wenn sie nicht mehr da sind. Ich merke, in welchem Verhältnis ich zu ihnen stehe, und wenn es ein guter Tag ist, so ist dies ein positives Verhältnis und wenn nicht, so ist es teils ein ungesundes Abhängigkeitsverhältnis. Manchmal merke ich auch erst im Nachhinein, was für ein Werk, Monster oder Unsinn ich geschaffen habe.
Und schnell passiert es, dass Menschen oder ganze Institutionen sowohl für Worte als auch für Drogen Interesse vorheucheln. Sie tun so, als würden sie Themen Bedeutung zumessen, um ihnen sofort im Anschluss den Rücken zu zukehren. Ich tue es auch. Ich schaue weg, ich höre weg, ich entferne Worte und Gespräche aus meinem Text, aus meinem Gedächtnis.
Worte und Drogen sind beides unheimlich weit gefasste Begriffe. Und eben nur deshalb können wir Worte als Drogen klassifizieren und nur deshalb können wir für Drogen Worte (er)finden. Es gibt hier selten schwarz und weiß und nichts als ein Vakuum dazwischen.
Manche Worte fühlen sich – wie Drogen auch – illegaler an als andere. Und so ist es auch nicht erstaunlich, dass manches von der Gesellschafft eben mehr toleriert und akzeptiert oder abgelehnt wird.
Und da wir alle Junkies sind, manche für Worte, manche für Drogen, andere für Wortdrogen und wieder andere für Drogenworte, ist es Zeit für ein bisschen Einsicht:
Wenn die Welt immer leiser und heiserer wird, ist es für uns an der Zeit, mehr zu reden. Auch mehr zu streiten. Und nicht wegzuschauen. Und mehr zu schreiben. Und zwar laut. Schreiben, als wären wir alle Abhängige.
Ich bin bereit. Du auch?