Diese haltlose Zeit
Diese haltlose Zeit
Es gab ein neues Gefühl in ihrem Leben. Ein Gefühl, das sie aus heiterem Himmel überfiel. Besonders häufig rauschte es heran, wenn sie an nichts dachte, sich entspannte oder sich einer Tätigkeit hingab, die keine Konzentration erforderte. Mal brach es mit der Gewalt einer Tsunami-Welle über sie herein, bereit alles andere im Leben für den Moment unter sich zu begraben. Zu anderen Zeitpunkten schlug es seicht wie eine Welle an einen Sandstrand in lauer Abendstimmung, um sich erfüllt von Leichtigkeit in Erinnerung zu bringen.
Sie liebte und hasste das Gefühl gleichzeitig. Es war keine Seelenregung, der sie einen Namen geben konnte. Das, was sie bewegte, war eine Melange aus Stimmungen, sie verwirrenden und verunsichernden Empfindungen. Es war nicht Hoffnungslosigkeit, keineswegs Angst, die in ihr hochkroch. Das Gefühl hatte nichts Bedrohliches an sich, doch wirkte es mindestens Respekt abnötigend, da es nicht fassbar war. Es beinhaltete nichts von alldem, was ihr zuvor untergekommen war. Manchmal fühlte es sich an, als klopfte das Schicksal höchstpersönlich an die Tür ihres Lebens, um sich in Erinnerung zu bringen. Als sagte es: Ganz gleich, was du planst, hier bin ich und habe ein Wörtchen mitzureden; ich kann dir jederzeit ins Leben grätschen. Hin und wieder begegnete ihr das Gefühl moderat und lockend, als ein wehmütiges Ziehen, eine unbestimmte Sehnsucht.
Es hatte mit den Fragen zu tun: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Und gelingt es mir, den Weg dorthin zu gehen?
Es gab Tage, an denen das Gefühl sie mit Aufbruchsstimmung, Abenteuerlust, wie eine Vorfreude auf eine aufregende Reise erfüllte. Zu anderen Zeiten lag es schwer wie Blei in ihren Magen. Dann wollte sie sich an alles Bestehende klammern, am liebsten hinter einer Mauer vor allem verstecken.
Diese Empfindungen hatten sich in ihr Leben geschlichen, kurz nachdem sich etwas anderes klammheimlich verabschiedet hatte. Eines Tages hatte sie zu ihrer Verwunderung festgestellt, es machte ihr keinen Spaß mehr zu spielen. Vorher hätte sie tagelang draußen Fangen, Verstecken spielen, toben können.
Jetzt fragte sie sich, wie sie jemals hatte Spaß daran haben können. Zuvor hatte sie stundenlang an ihrem Lieblingsort, auf der Schaukel, verweilen können. Nun war es langweilig. Ohne Vorwarnung wurden die Wochenenden geradezu sterbenslangweilig. Sie machte Abstecher in die Welt der Erwachsenen auf der Suche nach neuen Freuden, unternahm immer wieder Ausflüge zurück in die Kindheit. Zu Hause fühlte sie sich in keiner der Welten. So sehr sie es auch versuchte, sie hatte den Zugang zu ihren einstigen Freuden verloren. Als wäre irgendetwas in ihrem Gehirn gekappt worden. Als hätte eine fremde Macht in ihrem Körper gewaltet.
Sie saß zwischen den Stühlen. Es war ein Übergang, das war ihr klar, der sie wie ein Blatt im Wind ohne Halt durch den Raum taumeln ließ, unterwegs auf einer Reise, deren Ziel nicht feststand. Sie hatte gewusst, dass diese Zeit käme, sie hatte nicht gewusst, dass sie sich so anfühlte.
Den anderen in ihrem Alter erging es nicht anders. Freunde, Gleichaltrige verstanden sie. Sie befanden sich häufig in einem weitaus stärkeren Gefühlschaos als sie selbst. Auch die Mädchen, die nach außen selbstbewusst, sehr erwachsen wirkten, sich schminkten, auf besonders lässig taten, waren tief in ihrem Inneren schlimmer dran als sie.
Wenn ihre Mauer aus Selbstschutz zu bröckeln begann, zeigte sich dahinter ein Mensch, der verletzlicher war, als ein aus dem Nest gefallenes Vogelküken. Gespräche mit Gleichaltrigen endeten meist damit, dass sie die anderen motivierte und aufbaute. Obwohl sie mit sich selbst Kämpfe auszufechten hatte. Zutiefst erschrocken hatte sie neulich die Aussage ihrer Freundin: Hatten wir nicht alle schon mal Selbstmordgedanken?
Das, immerhin, konnte sie für sich eindeutig verneinen.
Und die Jungen in ihrem Alter? Während manche schüchtern und unbeholfen wie Riesenbabys durch die Welt tapsten, gab es die anderen, die Coolen, die unbeirrt von der Unruhe dieser Zeit durch das Leben tänzelten. Eine einzige Party daraus machten, unbeeindruckt von den Sorgen der Eltern und den Beschwerden der Lehrer.
Aber es gab auch Ausnahmen. Insgeheim blickte sie zu ihm auf: Eugenio. Er war ihr Star. Der Star aller Teenies, der weiblichen als auch der männlichen.
In der Schule fiel sein Name häufig und man konnte sicher sein, dass er in einem positiven Zusammenhang auftauchte. Er war nicht nur cool, er wirkte dabei ungeheuer authentisch und strahlte eine Sympathie aus, der man sich nicht entziehen konnte. Er ging mit einer Begeisterung durch das Leben, die alle mitriss, und sprühte vor Ideen. Selbst die Lehrer waren von ihm beeindruckt.
An einem Jungen wie ihm schienen die wechselnden Emotionen, mit denen sich der Rest der Schüler plagte, abzuprallen wie ein Hartgummiball von einer Betonwand.
„In deinem Alter wäre ich noch mal gerne!“
Wie oft hörte sie diesen Spruch von Erwachsenen? Gut, wenn sie ehrlich war, konnte sie das verstehen. Keineswegs wollte sie in dem Alter wie die Erwachsenen sein, die es sagten (niemand unter dreißig sagte das). Vor allem wollte sie niemals zu dieser Sorte von Erwachsenen werden, die so redeten. Sie schienen alle mit dem Leben unzufrieden zu sein, strahlten eine Verbitterung aus, als hätte das Schicksal ihnen besonders übel mitgespielt. Für die Möglichkeit, den Reset-Knopf ihrer Existenz zu drücken, wären diese Menschen dankbar gewesen.
Interessanterweise kam der Spruch nie von dem Typ Erwachsenen, zu dem sie emporblicken, der ihr etwas wie eine vage Orientierung bieten konnte oder gar zu einem Vorbild reichte. Wahrscheinlich, weil diese Erwachsenen zufrieden mit sich und den Umständen waren. Weil sie das Leben gestalteten und nicht umgekehrt. Oder, weil sie sich sehr genau an ihre eigene Jugend erinnerten, sehr wohl an die Höhen, aber ebenso gut an die Tiefen. Die Zeit, in der es viele Fragen und wenige Antworten gab.
Alles war machbar, sicherlich, das war die eine Seite. Aber wohin führte sie diese Alles-War-Machbar-Freiheit? Mitten in die Unwägbarkeit, Unsicherheit, das Risiko? Entscheidungen waren nötig, Verantwortung musste übernommen werden, sie spürte es. Sie fürchtete, im Dschungel der Entscheidungen auf den falschen Pfad zu geraten, sich an einer Weggabelung zu vertun.
Wo würde sie dann landen? Was passierte, wenn die Weichen falsch gestellt waren? Wie sah es mit einem konkreten Ziel aus?
Sie war nicht der Typ für Schwebezustände. Insgeheim hoffte sie, bald im Leben angekommen zu sein. Wobei ihr das Ziel keineswegs plastisch vor Augen stand. Vage Ideen waren es, nicht mehr. An guten Tagen. Allerdings gab es auch Zeiten, in denen sie zweifelte, jemals anzukommen.
Was passierte, wenn sie schwamm, wie ein Stück Holz in den Fluten des Lebens hin- und hergetrieben wurde, von den Launen des Schicksals abhängig war? Wurde sie dann wie dieser Typ Erwachsener, der sie auf keinen Fall sein wollte?
Eine Beunruhigung, die sich sehr schnell in den Vordergrund drängen konnte.
Bei all diesem Durcheinander in ihrem Innern hielt ein anderes Gefühl dagegen; Gott sei Dank schob es sich immer wieder dazwischen. Sie nannte es ihr Urvertrauen. Und dieses Selbstvertrauen sagte ihr: Du bist auf dem richtigen Weg. Es läuft. Alles wird gut.
Empfindungen dieser Art spülten sie durch den Alltag. Fragen über Fragen, die niemand beantworten konnte. Träume hatte sie: Chancen auf der einen, Risiken auf der anderen Seite. Das alles zusammen brodelte in ihr, köchelte mal auf hoher, mal auf niedriger Flamme.
Manchmal ergab sich ein Gespräch mit einem Erwachsenen. Dafür brauchte es Zeit, ein gewisses Einfühlungsvermögen der Älteren und die passende Gelegenheit. Alles zusammen ergab sich so selten wie ein Sechser im Lotto. Ihre Mutter, gestresst und gehetzt von ihrem eigenen Leben, hörte generell nur mit halbem Ohr zu. Ihr Vater war zu häufig unterwegs, um überhaupt zuhören zu können. Lehrer waren eine Spezies für sich. Für ihre Großeltern waren Sorgen ihrer Art so weit weg wie die Sterne. Erinnerten sie sich überhaupt an ihre Jugend? Oder war diese Haltlosigkeit eine Errungenschaft der modernen Zeit, in der es wenig vorgestellte Weichen, so gut wie keine Grenzen gab?
Ihr fehlte der Halt, die Beständigkeit. Freunde, Schule, alles war im Wandel. Was nach der Schule kam, war das riesengroße Ungewisse.
Sich vorwärts zu treiben, dabei auszutarieren, Gleichgewicht zu halten, kostete sie bisweilen unendlich viel Kraft. Dass es sie überhaupt Kraft kostete, auch das war neu. Manchmal fühlte es sich an, als versuchte sie, auf zwei auseinandergleitenden Eisschollen Gleichgewicht zu halten.
Verlangte das Leben ihr bereits den Spagat ab, über den Erwachsene ständig klagten? Wie schnell konnte ein Mensch untergehen?
Immer wenn sie meinte, es ginge nicht mehr, kam eine andere Phase. Es war, als böte das Leben ihr die Hand zur Versöhnung. Phasen, in denen sie die Welt umarmen konnte, voller Dankbarkeit sah, dass sie jung war. Jeden neuen Tag begrüßte, als gehörte er alleine ihr. Die Welt nicht groß genug sein konnte.
Die Achterbahn ihrer Gefühlswelt, Emotionen, die binnen Sekunden sich in das Gegenteil verkehren konnten.
Das war anstrengend.
Die Meldung über seinen Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Eugenio. Unbegreiflich. Unfassbar. Von einer Sekunde auf die andere war er nicht mehr da.
Hatte er die leichte Seite des Lebens zu sehr geliebt? Hatte er sich inspirieren lassen, musste er alles ausprobieren?
Drogen, munkelte man, seien im Spiel gewesen.
Warum sonst hätte sich ein lebenshungriger Jugendlicher zum S-Bahn-Surfen hinreißen lassen, wenn er wusste, dass auf der Strecke enge Tunnel lagen?
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