Ein Evangelium der etwas anderen Art.
Rezension von Stephan Moers
Wolfgang Priewe, „Jesus von Neukölln“, Dahlemer Verlagsanstalt, Berlin 2022, ISBN 9783928832915, kartoniert, 153 Seiten, 17,50 Euro (D).
Könnte es sein, dass Jesus nach seiner Grablegung und Auferstehung nicht nur den Jüngern erschienen ist, sondern mittlerweile wieder unter uns weilt?
„Guten Tag, mein Name ist Jesus von Nazareth, wie geht es Ihnen?“
Sähen wir einen Menschen, der andere Leute so anspräche, man würde wohl schleunigst die Straßenseite wechseln, wenn nicht sogar jemand die Polizei verständigte. Welch merkwürdiges Verhalten von uns, aber Jünger und Gläubige sind eben auch nicht mehr das, was sie mal vor 2000 Jahren waren. Genau diese Erfahrung macht Jesus im vorliegenden Band. Jesus hat genug davon, neben Gottvater zu sitzen und alles aus göttlicher Ferne zu betrachten. Dieser, Jahwe und Allah, die drei Großen der abrahamitischen Religionen, sind ziemlich konsterniert darüber, was die Menschheit in ihrem Namen treibt und anstellt und so kommt es, dass der jeweilige Gott zwar nicht tot, aber ziemlich ratlos ist. Eine schöne Schöpfung haben die sich da eingebrockt.
Jesus sucht also den direkten Kontakt und den auch noch ausgerechnet in Berlin Neukölln. Hier versucht er einen jungen Mann (kein Christ, dafür mit ostdeutscher Jugendweiheprägung) mit einer jungen Frau (aus einer muslimischen Familie stammend) zueinander zu bringen. Die Götter Allah und Gottvater sind sehr dafür, und auch die beiden jungen Menschen verspüren die gegenseitige Liebe, doch Tradition, Familienehre und ein bereits ausgesuchter Mann für die Frau lassen alles in einem Eklat enden. Mehr wird an dieser Stelle nicht verraten.
Das vorliegende Buch von Wolfgang Priewe kommt wirklich daher wie ein Evangelium. Das Ganze hat durchaus einen Strang, doch immer wieder verlagert sich der Fokus auf einzelne Handlungsschauplätze, wie bei den Gleichnissen, durch die Jesus seine Botschaft zu vermitteln sucht. Ein allzu biblischer Eindruck soll nun aber nicht entstanden sein.
Priewe siedelt den Handlungsrahmen in der Obdachlosenszene von Neukölln a,n und man bekommt einen Eindruck von Freud und Leid derer, die die vermeintlichen Verlierer der Gesellschaft sind. Jesus, zerknirscht ob seines fehlgeschlagenen Versuchs, zwei Liebende zueinander zu führen, findet sich bei Obdachlosen unter einer Brücke wieder. Der Leser erfährt von den unterschiedlichen Charakteren und ihren Biografien. Sie alle sind Menschen, mit unterschiedlichen Lebenswegen und sie suchen ihr Leid zu lindern. Man begegnet somit nicht mehr dem übelriechenden Trinker an der Straßenecke, sondern dem Menschen, der Person, die es sich mit Alkohol wenigstens für ein paar Augenblicke etwas leichter macht. Das stimmt nachdenklich, und auch der Rezensent folgt der literarischen Einladung und Mahnung, hinter allem ach so Offensichtlichen immer das Versteckte, ja den Menschen, zu sehen und zu suchen. Wie schnell erliegt man doch seinen Vorurteilen. Vorsicht muss beim eigenen Denken beginnen.
Im Verlauf des Buches entwickeln sich die Handlungen. Ein Künstler- und Obdachlosenchor wird gegründet, ein Lied bewegt und verändert etwas – auch die Situation der Protagonisten. Stets mittendrin Jesus, der immer wieder lernt, wie vertrackt das Menschsein doch ist, denn immer wieder stolpert er über die Widersprüche, die in uns liegen. Manche Protagonisten verschwinden, andere werden deutlicher.
Die Evangelienhaftigkeit der Handlung ist Stärke und Schwäche zugleich. Einerseits ermöglicht sie eine unheimlich abwechslungsreiche Erzählweise. Andererseits neigt sie dazu, sich zu sehr im Einzelnen zu verlieren. Handlungsstränge werden schnell belanglos. Schwächen, die man gern vergibt, denn die menschliche Nähe, die die Protagonisten in Wolfgang Priewes Buch auszeichnet, vermittelt dem Leser Erdung und veranlasst ihn zum Innehalten.
Der Rezensent fasst kurz zusammen: Grundsympathisch. Und daher durchaus eine Kaufempfehlung.