Ein Jahrhundertsommer

Ein Jahrhundertsommer

von Daniela Esch

Im Sommer 2003, der als erste Naturkatastrophe des neuen Jahrtausends in die Geschichtsbücher einging und alle Temperaturrekorde seit Beginn der Wetteraufzeichnungen in Europa brach, verloren während der Hitzewelle mehr als 70.000 Menschen ihr Leben. Du, liebe Momo, zähltest offiziell nicht dazu.

Jener Sommer dauerte länger als gewöhnlich. Von der Hitze ermattetet, zogen sich die Tage beinahe ins Unendliche. Die Nächte dagegen waren kurz und voller Magie. Sorglos stahlen wir uns Punkt Mitternacht aus den Zimmern, dank des lauten Surrens der elterlichen Ventilatoren blieben unsere Ausflüge unbemerkt. Wir hatten so viel Blödsinn im Kopf: auf fremde Yachten Klettern und Zahlenbilder in den Sternenhimmel Malen, mit Stock und Stein neue Rekorde auf dem Minigolfplatz Aufstellen und auf den Friedhofswegen im Mondlicht Salsa Tanzen. Die Abkürzung über den Friedhof nahmen wir oft, redeten mit den verlorenen Seelen, dachten uns Geschichten aus über die wilde Menage à trois von Gertrud, Willi und Helmut.
Erinnerst auch du dich daran, wie aufgeregt wir waren, als wir unterm funkelnden Sternenhimmel durch die Sträucher robbten, und wie wir jedes Mal glückselig ausatmeten, sobald wir das Loch im Maschendrahtzaun wiedergefunden hatten? Mit vom Erdboden verschmierten Knien begrüßten wir Sarah, Melanie, Alex, Philip und all die anderen Jugendlichen, sprangen unbekümmert mit ihnen ins kühle Wasser des Schwimmbeckens. Die Luft roch nach Lagerfeuern und Großstadt, die Wellen des Rheins klatschten gegen das Ufer, die Papageien, damals noch ein kleines Grüppchen aus vier oder fünf Halsbandsittichen, zogen über dem Freibad ihre Kreise. In jenem Sommer beneideten nicht wir die Vögel um ihre Unabhängigkeit, nein, sie schauten neidisch auf uns herab. Lachend, tobend, ausgelassen und unbekümmert wie wir waren.

Und nun stehe ich wieder hier, auf dem Friedhof, wo du begraben liegst und wo ich mich vor 13 Jahren von dir verabschiedete, nicht ahnend, dass es das letzte Mal sein sollte, dass ich dich in den Arm nehmen würde. Ich weiß noch genau, was du mir zuriefst, dort am Burgweg, zwischen Friedhofstor und Fachwerkhäuschen, wo sich an der Hauptstraße, zurück in der realen Welt, unsere Wege trennten: „Bloß nicht die Katze wecken!“
Winkend huschtest du davon.
Danach warst du verschwunden. Eine schweißtreibende Suche begann, ohne Erfolg.
Wochen später erklärten die Meteorologen die Hitzewelle offiziell für beendet. Die Temperaturen sanken, Wolken zogen auf, Regen sickerte in die vertrocknete Erde. Der Chihuahua eines Spaziergängers entdeckte schließlich deine Leiche. Einen Katzensprung von deinem Elternhaus entfernt hatte Philip sie verbuddelt. Fassungslos ob der Tatsache, dass ausgerechnet der stille Philip, der hilfsbereite und sanftmütige Musterschüler, dieses schreckliche Verbrechen begangen hatte, trauerte die Gemeinde nicht nur um dich.
Philips Geständnis erschütterte auch mich bis ins Mark. Nacht Nacht für Nacht war er uns vom Freibad gefolgt, beobachtete uns, verliebte sich in dich, die hübsche Klassenkameradin, die ihm vertraute wie ich auch.
Langsam laufe ich zur Kreuzung vor und blicke die Hauptstraße hinunter, sehe dich noch einmal in der Dunkelheit verschwinden. Irgendwo da vorn wartete Philip auf dich. Dankend nahmst du sein Angebot, dich sicher nach Hause zu begleiten, an, hast dich bei ihm eingehakt, erst mit ihm gelacht, dann über ihn, als er dir seine Liebe gestand. Und dafür würgte er dich, bis du leblos in dich zusammengesackt bist.

Wenn ich heute daran zurückdenke, spüre ich im Herzen noch immer, wie der Dolch des Argwohns mein Urvertrauen durchbohrte und all diese Fragen freisetzte, die meinen Kopf beinahe zum Zerplatzen brachten.
Warst du zu unvorsichtig gewesen? Zu leichtgläubig? Waren meine engsten Vertrauten, was sie zu sein schienen? Oder steckte in jedem von ihnen, sogar in mir selbst, ein Monster, das nur darauf lauerte, durch Ablehnung, Hohn oder Trauer hervorgelockt zu werden? Ja, in meiner Trauer um dich wünschte ich Philip selbst den Tod, wollte, dass er dafür büßte, dir das Leben genommen zu haben. Dich aus meinem Leben genommen zu haben. Meine Gedanken ängstigten mich. Ich war eingeschüchtert, misstrauisch, fürchtete lange aus dem Haus zu gehen und anderen zu begegnen.
Aber die Erinnerungen an dich, Momo, an dein Lachen, deine Phantasie, dein beschwingtes Wesen und unsere gemeinsame Zeit gaben mir Halt, machten mich stark. Irgendwann glaubte ich fest daran, dass Philip in jener Nacht nicht er selbst war, dass ihm die Hitze zu Kopf gestiegen war, er zu ausgelaugt war, um sein Monster in Schach zu halten, und schließlich schöpfte ich neue Zuversicht.
Heute vertraue ich wieder auf das Gute im Menschen, doch es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an dich denke, kein Sommer, an dem ich nicht zurückkehre in die Heimat und nachts heimlich auf fremde Yachten klettere, Zahlenbilder in den Sternenhimmel male und durch die Büsche robbend das Loch im Maschendrahtzaun suche.
Im Freibad toben die Jugendlichen ausgelassen im Becken, und für einen kurzen Moment scheint die Zeit still zu stehen.

 

2 thoughts on “Ein Jahrhundertsommer

  1. Eine spannende, kleine Kurzgeschichte, die einen in das Wohlgefühl der Kindheit führt und gleichzeitig die Nackenhaare hochstellt.

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